Verzeichnis der Korrespondenz
RM an Rainer MAria Rilke, 16. November 1924
Datum: 16.11.1924
Ort: Ort: Wien / Val-Mont
Typ: Brief
Quelle: Rilke-Archiv
–> Rainer Maria Rilke
Verehrter Herr Rilke!
Ich habe oft an den Abend bei Fischer und das Stück Wegs zur Tram gedacht. Daß Sie mich nicht vergessen haben, freute mich deshalb sehr. Ich erfuhr es vor einigen Tagen durch Frau Weininger.
Sie fragen, was ich getrieben habe oder wie ich getrieben worden bin? Damals – es kam ja bald danach der Krieg – rückte ich ein und blieb bis gegen Ende draußen, nur das letzte Jahr machte ich teilweise im Kriegspressequartier mit. Fischer ließ mich nach dem Zusammenbruch sitzen. Es ging wie über eine höckrige Straße im Finstern; ein paar Schritte vorwärts, und dann wieder ein Loch, aus dem man kaum heraus kann. In zwei recht trostlosen Augenblicken wurden mir durch Zufall und Freundlichkeit interessante Stellungen angeboten; zuerst eine im Ministerium des Äußern, später eine im Heeresministerium. Dann machte die Not der Staatsfinanzen dem ein Ende und setzte mich dem reinen Schriftstellerberuf aus; glücklicherweise kam mir der Kleistpreis und der Preis der Stadt Wien zu Hilfe, welche etwas Aufmerksamkeit auf mich zogen. Und seither lebe ich – zwar sehr unsicher, ob nicht Rückschläge kommen, aber doch zum erstenmal in Freiheit.
Geschrieben habe ich seit den „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ recht wenig. In der Reihenfolge: Ein Novellenbuch „Vereinigungen“. Ein Theaterstück „Die Schwärmer“. Einen Novellenband „Drei Frauen“, und gleichzeitig damit eine kleine Theaterfarce „Vinzenz oder die Freundin bedeutender Männer“. Wenn Ihnen etwas davon fehlt, bitte ich Sie um Nachricht. Die „Schwärmer“ sind ein literarischer Erfolg, aber gespielt wurden sie noch nie, obgleich oft angenommen; deshalb bin ich auch der Absicht des Deutschen Theaters in Berlin, diese Serie noch in diesem Winter zu durchbrechen, nicht sicher. „Vinzenz“ – ich wollte zum Spaß noch unter das Niveau unsrer Bühne steigen, um den Leuten von da beizukommen – ist natürlich gespielt worden und sogar mit einigem Erfolg. Jetzt schreibe ich einen Roman, der im Frühjahr erscheinen soll.
Ich würde mich sehr über eine Übersetzung freun und danke Ihnen herzlich für die Anregung. Das wenige, was ich von der französischen Literatur kenne, gab mir immer das sonderbare Gefühl, daß ich ihr mehr zugehöre als der deutschen (auch kann der deutsche Schauspieler meinen Dialog nicht sprechen); vielleicht ist das aber nur einseitig und eine Täuschung. Am schwierigsten zu übersetzen sind wohl die „Vereinigungen“, am dankbarsten der „Törleß“, als das Wichtigste erscheinen mir die „Schwärmer“. Besonders froh bin ich darüber, daß die Tatsache Ihrer Vermittlung die Begabung des Übersetzers verbürgt. Ich hoffe, er läßt es mich wissen, sobald seine Absicht fest ist.
Wenn ich recht verstanden habe, wünschten Sie einen Aufsatz über mich zu erhalten; ich lege drei bei; keiner deckt sich ganz mit dem, was ich will oder möchte, und eben deshalb traf ich keine Wahl, aber die Person der Verfasser sichert den Eigenwert eines jeden. Wenn Sie mir zurücksenden würden, was Sie nicht brauchen, wäre ich umso dankbarer, als ich hoffe, bei dieser Gelegenheit ein paar Zeilen von Ihnen zu erhalten. Die Anstreichungen in dem einen dieser Aufsätze sind natürlich nicht von mir gemacht. Eines muß ich diesen Kritiken hinzufügen, wenn man mir nachrühmt, daß ich Erlebnisse gestalten kann, die schon halb im Imaginären liegen: Die Vorbilder dafür habe ich in einigen Ihrer Gedichte gefunden, die nicht übertroffen werden können.
Also darf ich Sie grüßen
als Ihr dankbar ergebener
Robert Musil
Postskriptum: Ein französischer Freund hat vor einigen Wochen die „Schwärmer“ an Thibaudet gesandt, was vielleicht wichtig zu wissen ist.
