1.3. Tragödie des misstrauens
(Anfang 1906 – November 1907)
{1} Den Stoff zur „Tragödie des Mißtrauens“ [H3/58] [AN 92] im Rahmen der Vorarbeit zum Roman liefert auf biografischer Ebene die Beziehung von RM zur Brünner Textilverkäuferin Herma Dietz. Sie endet laut Corino im November 1907 mit deren Tod. [Corino 2003, 280-286] Aufzeichnungen im Tagebuch deuten darauf hin, dass eine Fehlgeburt infolge einer Syphilis-Infektion (des Mädchens, des Autors?) die Todesursache gewesen sein könnte. Erst durch die Einlieferung ins Hospital im Frühjahr 1906, die Feststellung der Erkrankung und den von Ärzten geäußerten Verdacht auf ihre Untreue wird Herma als literarische Figur für den Autor wirklich „interessant“ [H3/78] [Corino 2003, 280ff]. Sein neues Schreibprojekt ist durch Präsenz der lebenden Person und des mit ihr Erlebten in einer literarischen Verarbeitung definiert, die von tagebuchartiger Aufzeichnung schwer zu unterscheiden ist. Es gehört zum aktuellen Roman, zugleich emergiert aus ihm die Novelle Tonka. [Fanta 2013, 14-22]. Was sich hauptsächlich in Heft 3, aber auch in weiteren Heften und auf losen Blättern mit der Sigle AN auffinden lässt, gliedert sich entsprechend der auftauchenden Namen von Personen=Figuren in Sequenzen.
{2} Herma und Ich: Es existieren Heft-Eintragungen zu Herma aus der Zeit vor 1906, die bereits Züge der Fiktionalisierung tragen und eher als Opus-Fantasie denn als Tagebuch zu bewerten sind. Eine davon ist mit 20. April 1905 von Musil selbst datiert, in ihr schreibt er von einer „Erzählung“ mit einem „antinomischen Konflikt“: „Denken wir, ich müßte Herma Fremden überlassen“ [H11/10]; hier steht noch ein Ich im Text. Ein in Heft 4 eingelegtes Blatt bringt eine porträthafte Beschreibung der körperlichen Erscheinung Hermas in einer für RM untypischen Schreibweise. Die Seite beginnt mit einem Entwurf in Tinte eines Vorworts zum Törleß, das neben dem Maeterlinck-Zitat, welches die Buchausgabe als Motto ziert, auch einen Ausspruch Oscar Wildes enthält. Auf der unteren Hälfte des Blatts ist in vertikaler Schreibrichtung das Herma-Porträt in lateinischer Schönschrift verfasst; daran schließt, ebenfalls in vertikaler Schreibrichtung, ein Entwurfsanfang in Bleistift und in Kurrentschrift an, der nach acht Zeilen unleserlich wird, da das Blatt an dieser Stelle beschädigt ist, es wurde offenbar aus einem Heft herausgerissen. Zu datieren sind die mit Tinte beschriebenen Teile des Manuskripts auf 1905, schon allein wegen des fallengelassenen Törleß-Vorworts; der Bleistift-Zusatz ist definitiv später entstanden, hier taucht der Figurenname „Mordansky“ auf. Das Schönschriftporträt Hermas schließt mit Sätzen, aus denen seine textgenetische Funktion hervortritt: „Und als sie schwanger war, traten . . . Ja, als sie schwanger war, ich möchte die Geschichte erzählen.“ [H4/E11]
{3} Robert und Herma [H3/58-67] sprengt ab ca. Frühjahr 1906 den bisherigen Handlungsaufbau der Dreiecksgeschichte Robert-Gustl-Alice und den durch Dr. Pfingst (Oskar Pfungst), Allesch (Johannes von Allesch), Mia (Ea Rudolph) und Mitglieder der Familie Charlemont entstandenen erweiterten Figurenkreis. Ab Mitte 1906 entwickelt sich Hermas Geschichte zum immer zentraler werdenden Handlungslement des geplanten Romans, der noch Anfang 1908 mit ihrem Tod im »ärmlich bürgerliche[n] Zimmer« enden sollte [IV/2/478-480]. In dem damit nur lose verknüpften und in der Linearität der Handlung folgenden anschließenden Schreibprojekt Haus ohne Gegenüber bildet dieser tragische Schluss jedoch nur mehr das Ende des ersten Romanteils. Er leitet zur Erzählung der Geschwister-Geschichte mit der Protagonistion Angela über, welche dann schon die intime Beziehung mit Martha Marcovaldi voraussetzt (ab November 1907). Zur Stufe Robert und Herma haben sich im Nachlass außerhalb von Heft 3 und den in Heft 4 eingelegten Zetteln auch zwei zum Teil noch im Präsens verfasste Skizzen erhalten [AN 39][AN 10]. In einem weiteren Dreieck mit Robert und Herma zeichnet sich darin die wichtige Funktion der Mutter-Figur ab, deren omnipräsentes Vorbild, die reale Mutter des Autors, in ominöser Weise den Vornamen der Geliebten tragend, sich in das Leben ihres Sohnes und in seine Fiktionalisierungsversuche einmischt.
{4} Herma und Hugo: Für den Protagonisten Hugo entwirft Musil zwei Romananfänge und einen Romanschluss. Einmal sollte die Erzählung mit dem Motiv der „leeren Stunden“ beginnen: Hugo sitzt, Novalis lesend, im Vorraum zum Sterbezimmer der Großmutter und lässt die Ereignisse um Hermas Erkrankung Revue passieren [H4/E15][H3/78-82]. Ein weiterer Schreibanfang ist von Musil später mit der Sigle AN 126 versehen worden. Er repräsentiert die gesamte vorhandene Erzählsubstanz in einer mit Bleistift abgefassten und später mit Tinte korrigierten siebenseitigen Rohfassung. Man könnte den titellosen Entwurf als Exposé bezeichnen, das den Zweck verfolgt, den äußeren Handlungsverlauf grob festzulegen. In der ersten Hälfte der 1920er Jahre verfasste Musil eine große Anzahl solcher Rohentwürfe zur Handlungsfixierung für die Romanfassungen. Auch AN 126 eröffnet einen größeren, romanhaften Kontext, indem das Geschehen zwischen Hugo, wie der männliche Protagonist nun heißt, und Herma (im Manuskript abgekürzt: H., He.) mit Hugos Freund Walther (auch: Walter) und seiner Frau Clarisse verknüpft ist. Es setzt ein mit dem analeptischen Hinweis auf eine Schwangerschaft Hermas, ihre Erkrankung und einen Abortus. Hugo konsultiert einen Arzt, dessen impertinentes Lächeln in ihm den Verdacht auf eine Ansteckung durch Herma reifen lässt. Er möchte sich von Herma lösen, ist aber finanziell von ihr abhängig gewesen, nun hat sie ihre Stelle wegen der Schwangerschaft verloren. Herma verfällt, Hugo versucht vergeblich, durch literarische Arbeiten Geld zu beschaffen und wendet sich schließlich an seine Mutter um Hilfe. Die Mutter kommt nach Berlin, um die Verhältnisse zu ordnen, sie verlangt Hugos Trennung von Herma und schlägt vor, dass man sie abfinden werde. Als Hugo sich weigert, lächelt die Mutter. „Dieses Lächeln besagte: so tief bist Du also verstrickt.“ [IV/2/485] An die Episode mit der Mutter schließt die Schilderung der intimen sexuellen Beziehung zwischen Hugo und der schwangeren Herma an, um der Verstrickung Hugos Ausdruck zu verleihen. In diesen Passagen treibt der Autor stilistischen Aufwand, auch die Korrekturen in Tinte bezeugen, dass die Elaboration hier vor allem ansetzt. Am Schluss dominiert wieder die skizzenhafte Exposéform, RM versuchte die Handlung aus der Herma-Enklave wieder in den romanesken Zusammenhang mit Walther zu führen. „Ein Schluss des Romans“ [H3/73], so sieht es schließlich eine Skizzierung in Heft 3 vor, wäre Resignation und eine inzestuös anmutende Zusammenführung des Bilds der Geliebten mit dem der Mutter in einer Abendstimmung. [H3/74]