GA Bd 8 – Nachwort des herausgebers, S. 594-598
{1} Von Mai bis August 1915 in Palai im Fersenatal (Palù del Fersina, heute Provinz Trento, Norditalien) stationiert, notierte der k. u. k. Leutnant Musil neben regionalen Sprachproben auch natur- und quasi volkskundliche Beobachtungen. Motive wie »Hunde in Palai«, »Schweineschlachten in Palai« und den Namen »Gridschi« führte er 1918/19 als Stichworte zu einem »Tierbuch/Idyllen«-Projekt an (Heft II, S. 55). Er skizzierte den Anfang von »Gridschi«, einer Erzählung, die er in der Gegend von Pergine, im Endtext als P. bewahrt, »an der Grenze von Märchen« (Heft II, S. 64) spielen lassen wollte. Das Wort »Gridschi« steht hier bereits eindeutig als Titel für einen geplanten Text. Auch die Heustadl-Szene, die im Heft auf Seite 69 folgt, beginnt mit diesem Wort: »Gridschi: Zu unserer Alm gehn. Welche Verzauberung. Heustadl: Durch die Fugen zwischen den Balken strömt silbernes Licht ein. Das Heu strömt grünes Licht aus. Unter dem Tor liegt eine dicke goldene Borte. Das Heu riecht säuerlich. Wie die berauschenden Getränke der Neger (aus dem Teig der Brotbaumfrucht und Speichel bereitet). Durch diesen Gedanken entsteht ein wirklicher Rausch. In der Hitze des engen, von gärendem Heu erfüllten Raumes. Das Heu trägt in allen Lagen. Man steht darin bis zu den Waden, zugleich unsicher und überfixiert. Man liegt darin wie in Gottes Hand, möchte sich in Gottes Hand wälzen wie ein Schweinchen. Man liegt schräg und fast senkrecht, wie ein Heiliger, der in einer Wolke zum Himmel fährt.« (KA, Heft II, S. 69) Sehr deutlich erkennbar sind die Merkmale der literarischen Gestaltung in dieser bereits zum Entwurf übergehenden Notiz. Dennoch wurde diese Heftnotiz gemeinsam mit einigen anderen dazu verwendet, ein Verhältnis Musils mit der Bauersfrau Gridschi zu konstruieren, hinter der sich Magdalena Lenzi (1880–1954) verberge, identisch mit »Lene Maria Lenzi« im publizierten Text von Grigia. Die Heustadl-Szene mit Magdalena erweist sich bei genauer Lektüre der Heftnotiz als ein Heustadl-Erlebnis in Gridschi; das Wort steht in der Notiz für den Titel eines imaginierten literarischen Textes.
{2} Die Notizen dieser Schreibperiode waren noch Teil des Idyllen-Projektes, dem Musil in den Bildern der Sammlung Nachlaß zu Lebzeiten schließlich Gestalt verlieh. Im letzten auf Grigia bezogenen Hefteintrag wird dies durch die Verbindung der Tiergeschichten mit einem Protagonisten deutlich, der im Krieg ein Todesnähe-Erlebnis erfährt, ein Thema, das er später in Die Amsel bearbeitete: »Man könnte die Tierskizzen auch zu einer einzigen Erzählung machen. Dann wäre Hauptperson ein Mann, der sich vorher auch oft in Lebensgefahr begeben hat. (Im Gebirge, beim Schwimmen, Segeln, Autofahren.) Aber immer war ihm das nur ein Sportreiz. Im Krieg ist es die Erweckung. Und nach Hause kommt er mit einer nicht mehr einschlafenden Angst vor dem Tode, weil er nicht weiß, wie es ist.« (Heft II, S. 71) Den Plan verfolgte er in dieser Form zwar nicht weiter, doch wirkte sich der Motivzusammenhang stark auf die erste Erzählung aus Drei Frauen aus.
{3} Vermutlich nahm er sich das Material zu Grigia erst in der zweiten Hälfte 1921 wieder vor. Die Fertigstellung der Novelle bis auf letzte Korrekturen erfolgte brieflichen Angaben zufolge Ende Oktober: »Ich bin schon seit mehr als acht Tagen mit der kleinen für Sie bestimmten Erzählung fertig, sie wird den gewünschten Umfang haben, aber ich muß sie beim Abschreiben noch ein wenig überarbeiten und dazu konnte ich mich noch nicht aufraffen.« (an Frisch, 6. 11. 1921) Wahrscheinlich ist diese Reinschrift-Fassung, von der im Brief an den Redakteur des Neuen Merkur die Rede ist, mit einem in der Fondation Martin Bodmer Coligny in Genf erhaltenen 19-seitigen Entwurf identisch. Dem Manuskript fehlt gegenüber dem Druck der Anfang im Umfang von etwa zwei Seiten. Es finden sich neben einer Sofortkorrektur in schwarzer Tinte zwei weitere Korrekturschichten, eine flüchtige in Bleistift und eine zweite in schwarzer Tinte. Die Überarbeitung griff stellenweise stark verändernd in den Grundtext ein. Nach dieser Korrektur kam es im Vergleich zum Text der Erstveröffentlichung im Neuen Merkur von Dezember 1921 nochmals zu geringfügigeren Textveränderungen; es fielen Entscheidungen für oder gegen einzelne Varianten, v. a. änderte sich der Name der Protagonistin und somit auch der Titel der Novelle von »Gridschji« zu »Grigia«. Die drei Drucke von 1921, 1923 und 1924 unterscheiden sich nur geringfügig. Der Buchfassung von 1924 bei Rowohlt scheint der Druck von 1921 zugrunde gelegen zu haben. 1926 gab Musil acht Seiten der Novelle in der Prager Presse noch einmal in Druck, offensichtlich auf Grundlage der Version von 1923.
