Rezensionen Törleß

Rezensionen zu:
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

Robert Musil

von: Alfred Kerr
Am: 21. Dezember 1906
in: Berliner Tageblatt
[ÖNB: 4.3. 13,1-5]

–> Bibliographie

I.
Robert Musil ist in Südösterreich geboren, fünfundzwanzig Jahre alt, und hat ein Buch geschrieben, das bleiben wird. Er nennt es: „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“. Der Wiener Verlag bringt es heraus. In diesem jungen und wohl bald verrufenen, verzeterten, bespienen Werk, das auf den Index ornatloser Piassen gesetzt wird, wenn ein halbes dutzend Menschen es nur erst gelesen hat, sind Meisterstrecken. Das Starke seines Werkes liegt in der ruhigen, verinnerlichten Gestaltung abseitiger Dinge dieses Lebens, – die eben doch in diesem Leben sind. Die unser Hexenprozeßverfahren heute straft. „Nachtseiten“ sagt der Feuilletonist; also Nachtseiten. Für jeden sind sie nicht vorhanden: insofern kein Leib aber die Konjunktur seines Schicksals es mit sich brachten, daß er in seiner dieser Nebenwelten je geriet; aber vorhanden sind sie.
Und als Episoden im Gesamtschauspiel der Menschenexistenz haben sie dargestellt zu werden ein Recht, das Kinder oder Kaffern durch Stimmkraft und Faustgewalt nicht ernsthaft erschüttern können. Mögen sie beim Lesen des Buches umfallen (Ich höre bereits ihr Gemecker), – es zeigt neue Stufungen im Seelischen.
Was ihr da erblickt, sind dämmernde Zwischengrade: Vom Aug‘ eines Unterscheiders umrissen, mit den Nerven eines Beteiligten empfunden, in der Handschrift eines Dichters nacherzählt. Ich erinnere mich des Friedrich Schlegelschen Satzes: „Wenn man einmal aus Psychologie Romane schreibt oder liest, so ist es sehr inkonsequent oder klein, auch die langsamste und ausführlichste Zergliederung unnatürlichster Lüfte, gräßlicher Marter, empörender Infamie … scheuen zu wollen.“ Hundert Jahre vergingen, seit er das schrieb. Indessen war Dostojewski da…Aber ihr werdet trotzdem zetern, meckern und schäumen.

II.
Musils Erzählung ist ohne Weichlichkeit. Es steckt darin keine, sozusagen, Lyrik. er ist ein Mensch, der in Tatsachen sieht, – nur aus ihrer Sachgestaltung erwächst ihm dasjenige Maß von „Lyrik“, das in den Dingen etwas steckt. Man bemerkt Lichter und Dunkles. Das Buch gibt, was mir wertvoll erscheint, die Luftstimmung zwischen dem Räumlichen und dem Seelischen… Bei der Erinnerung an das Buch hat man die Erinnerung an Dinge, die visionär aufleben und doch Wirklichkeit sind. Einzelheiten haften im visuellen Gedächtnis. (Das ist vielleicht der Prüfstein für die Gestaltungsart eines Schriftstellers; ob seine Szenen in visuellem Gedächtnis wiederkehren oder in einer abstrakteren Gedächtniserscheinung.)
Ein kleiner Wald etwa, mit einem Haus darin; das Atmosphärische darum, alles verflochten mit einer Seelenstimmung…nein: so gemalt, daß die Vorgänge, die Bäume, das Wetter, die Beleuchtung, der Inhalt des Hauses und der zeitweiligen Säfte darin, eine Dirne Bozna, die Schüler eines mährischen Konvikts in ihrer Uniform, die niedlichen Degen an der Seite, die Gerätschaften des Zimmers, und das Eckchen Gewölk, das von oben hereinsieht. – daß alles wie ein Bestandteil der Seele des Zöglings Törleß wirkt… und dämmrig sichtbar bleibt. Frei von Empfindsamkeit. Tatsachendarstellung. Nicht „gemalt“ ist die Stimmung, sondern das Dargestellte wirft sie ab. Alles wird nach längerer Zeit im Gedächtnis bleiben mit der Tönung der Umwelt, mit der Beleuchtung von Außendingen und, nicht zuletzt, mit den Bewußtseinszuständen eines Menschen: des Zöglings Törleß. Alles das wirkt real und, beim Erinnern visionär – ein Vorgang, wie ihn Törleß selber an seiner Art zu sehen beobachtet…Oder man nehme zuvor einen inneren Zustand am Sonntagnachmittag in der Konditorei einer kleinen Stadt; oder auf einem Gang bei den ersten kleinen Häusern des Orts, vorüber an Kindern, Schmutz, Höfen, slawischen Weibern…
Visionär und real wirken dann absonderlich-furchtbare Geschehnisse zur Nachtzeit in einem Bodenraum des Konvikts. In einem Helldunkel sind sie gemalt, daß neben den wirklichen Dingen etwas Unwägbares, Entgleitendes durch sie hindurchschwingt, auch über ihnen wegtönt, man fühlt über allen Scheueln und Barbareien, die sich dort zutragen, etwas Verströmendes wie den Gang der Zeit. Die Beleuchtung drückt sich wieder dem Gedächtnis ein, gibt den Greueln und Tierheitsauftritten etwas Unwirkliches.

Bei aller Körperlichkeit. Und sie bleiben körperlich bei allem Visionären. „Nachtseiten“, – ja; aber Nachtseiten muss einer malen können. Die Darstellung immer frei von Empfindsamkeit. Nur aus Tatsachen quillt, was an erschütternden Empfindungsmöglichkeiten in ihnen steckt. Und die Hauptgestalt, der junge Törleß, ist sogar allzu frei von entscheidendem Mitfühlen, von zupackendem Anteil: denn vor dem Furchtbarsten, das ein anderer durchmacht, steht er,… nicht wie vor einer ethischen Angelegenheit; sondern bloß wie vor einer Angelegenheit seines Bewußtseins. Vor einer Frage nach dem inneren Geschehen, – „Weil mich dabei ein Vorgang in meinem Gehirn interessiert, ein Etwas, von dem ich heute trotz allem noch wenig weiß, und vor dem alles, was ich darüber denke, mir belanglos erscheint“.

III.
diese junge Zentralperson, welche durch ein Hinnom von Abscheulichkeiten wandelt, – um dann halb gefestigt, halb erinnerungsvoll auf der Erde zu stehen, mit der Kenntnis von ihrer rätseläugigen Nebengebieten: die Kernperson führt einen Kampf um das Festhalten des Entgleitenden. Der Zögling möchte beleuchten, was ihm dämmrig heranwittert. Er möchte manches, was in uns lebt, emporreißen, packen, es stellen. Deinen Namen will ich wissen, deine Sippschaft, so ruft er zu den Dingen, nicht zu Menschen. Auch zu Menschen. zu Etlichen, das um sie geistert, das in ihnen schwebt, schwillt, schwindet. Leblose Sachen befremden ihn zunächst; er ist „in der Aufregung eines Menschen, der einem Gelähmten die Worte von der Verzerrung des Mundes ablesen soll und es nicht zuwege bringt.“. So, als ob er „einen Sinn mehr hätte als die anderen, aber einen nicht fertig entwickelten, einen Sinn, der da ist, sich bemerkbar macht, aber nicht funktioniert“. Und die Menschen wirken auf ihn ebenso zweifelerregend wie das Leblose. Basini heißt ein Mitzögling, an dem Gräßliches vollzogen wird. Törleß sitzt ihm spät und still einmal gegenüber. Wie Törleß ihn von anderen durch nichts unterschieden erblickt, „wurden die Erniedrigungen in ihm lebendig, die Basini erlitten hatte. Wurden in ihm lebendig: d. h., daß er gar nicht daran dachte, mit jener gewissen Jovialität, die die moralische Überlegung im Gefolge hat, sich zu sagen, daß es in jedem Menschen liege, nach erduldeten Erniedrigungen möglichst schnell wenigstens nach der äußeren Haltung des Unbefangenen wieder zu trachten“, sondern Törleß spürt einen Schwindel; dazwischen „wie stiebende Farbenpunkte“ allerlei, was er in auseinanderliegenden Zeitabständen über Basini gefühlt. „Eigentlich war es ja immer nur ein und dasselbe Gefühl gewesen. Und ganz eigentlich überhaupt kein Gefühl, sondern mehr ein Erbeben ganz tief am Grunde, das gar keine merklichen Wellen warf und vor dem doch die ganze Seele so verhalten mächtig erzitterte, daß die Wellen selbst der stürmischsten Gefühle daneben wie harmlose Kräuselungen der Oberfläche erschienen. Wenn ihm dieses eine Gefühl zu verschiedenen Zeiten dennoch verschieden zu Bewußtsein gekommen war, so hatte dies darin seinen Grund, daß er zur Ausdeutung dieser Woge, die den ganzen Organismus überflutete, nur über die Bilder verfügte, welche davon in seine Sinne fielen – so, wie wenn von einer unendlich sich in die Finsternis hinein erstreckenden Dünung nur einzelne losgelöste Teilchen an den Gelsen eines beleuchteten Ufers in die Höhe spritzten, um gleich darauf hilflos aus dem Kreise des Lichtes wieder zu versinken.“ In welcher Beziehung steht Törleß zu einem neben ihm Lebendem? „Nie ‚sah‘ er Basini irgendwie in körperlicher Plastik und Lebendigkeit irgend einer Pose, nie hatte er eine wirkliche Vision: immer nur die Illusion einer solchen, gewissermaßen nur die Vision seiner Visionen. Denn immer war es in ihm, als sei eben ein Bild über die geheimnisvolle Fläche gehuscht, und nie gelang es ihm, im Augenblicke des Vorgangs selbst, diesen zu erhaschen. Daher war beständig eine ratlose Unruhe in ihm, wie man sie vor einem Kinematographen empfindet, wenn man neben der Illusion des Ganzen doch eine vage Wahrnehmung nicht loswerden kann, daß hinter dem Bilde, das man empfängt, Hunderte von – für sich betrachtet ganz anderen – Bildern vorbeihuschen…“ Die Erkenntnisnot des Helden wird erzeugt von der Unvergleichbarkeit des Erlebens und des Erfassens. Von der Unvergleichbarkeit, die herrscht zwischen Erleben und Erfassen. Und wie er gleichsam nach einer unbekannten Insel schwimmt, zu der ihn das Geheimnis zieht, verwirrt er sich im Tang der Geschlechtlichkeiten … der besonderen Greuel, die ebenso abseits vom hellerlichten Tage des Lebens scheinen wie anderes Verborgenes…
Und am Schluß liegen diese Dinge hinter ihm wie etwas, das niemals war (und doch gegenwärtig ist). Die bürgerliche Sonne leuchtet über die bürgerliche Welt. Das Acherontische schweigt. Doch es war einmal, es war einmal in seinem Leben.

IV.
Ein Konvikt… ferne Beziehungen zu den Eltern (etwa einem Draht ohne Strom ähnlich). Ein Suchen in erkenntnisloser Einsamkeit. Irgend eine Annäherung zu einem auftauchenden Menschen, der Schatten einer inneren Beziehung – ein Verbleichen. Zwischendurch Episoden bei einem Frauenzimmer a.D. Dann: Ein Zögling, Basini, begeht Diebstähle; kommt hierdurch in die Gewalt, auf Gnad‘ und Ungnade, zweier festen Mitschüler, Reiting und Beineberg. Der junge Törleß, anfangs Zuschauer, geht nachtwandlerisch, seinen Rätseln folgen, ins unabgesteckte Reich des Scheuelvollen, des Brauchlosen…wird hineingezogen…und gewahrt in der vollziehenden Sekunde: „Das bin nicht ich!…nicht ich!“
Nicht alles kann ich nachspüren. Der Schwerpunkt dieser Dinge liegt mir so fern wie die Menschenesserei der Südsee: aber ich weiß doch, daß es Menschen mit diesem Drange gibt. Ich hab‘ es bisher nicht geglaubt; jetzt glaub‘ ich es. Ecco.
Das Bild ist schlecht gewählt: Es handelt sich um Leute, die nicht, gleich Kannibalen, tiefer stehen als wir. Sondern die vielleicht, da sie in anderen Teilen ihres Lebens oft zu unseren gesetzlich anerkannten Empfindungen kommen, einen Zug mehr benützen als wir: die so fühlen können wie wir, aber zugleich noch anders fühlen können, die um eine Gliederung reicher sind, vor der wir erschauern. Oder doch die Augen aufreißen. Oder auch nicht mehr die Augen aufreißen. Musil, der den Törleß gemalt hat und sein Erlebnis, hat zum erstenmal in Fleisch und Blut und Nerven einen hingestellt, bei dem die Fremdheit aufhört. Das alles ist also keine Sage, bisher hielt man es doch immer dafür, wenn man sich scharf beobachtet: sondern es ist gar nicht mehr zu bezweifeln. Die Fremdheit wird gemindert, weil der Blick Zusammenhänge fühlt. Weil triebmäßig eine Erkenntnis wächst, die keine Wissenschaft, aber die ein Dichter geben kann.
Törleß leugnet später nicht, durch eine Erniedrigung (er braucht dieses Wort, nicht am Ende sein Autor) hindurchgegangen zu sein. Doch er fügt hinzu – der spätere Törleß, indem er mit Recht betont, daß die anderen doch auch Dinge durchleben, die von der Qualität jener Erlebnisse wirklich nicht so sehr abweichen, – er fügt mit nachdenklicher Klugheit hinzu: „Wollten sie übrigens die Stunden der Erniedrigung zählen, die überhaupt von jeder großen Leidenschaft der Seele eingebrannt werden? Denken Sie nur an die Stunden der absichtlichen Demütigungen der Liebe! Diese entrückten Stunden, zu denen sich Liebende über gewisse tiefe Brunnen neigen oder einander das Ohr ans Herz legen, ob sie nicht drinnen die Krallen der großen unruhigen Katzen ungeduldig an den Kerkerwänden hören? Nur um sich zittern zu fühlen! Nur um über ihr Alleinsein oberhalb dieser dunklen, brandmarkenden Tiefen zu erschrecken! Nur um jäh – in der Angst der Einsamkeit mit diesen düsteren Kräften – sich ganz ineinander zu flüchten!“ Und er spricht ein blitzhelles Wort; von schlagender Kraft, wie es kein Anwalt geben, sondern wieder nur ein Künstler in dieser Prägung finden kann, – das ernste Wort, welches die Verwandtheit auch des Nichtüblichen erleuchtet: „Sehen sie doch nur den jungen Ehepaaren in die Augen. Du glaubst…? steht darin, aber du ahnst ja gar nicht, wie tief wir versinken können! – In diesen Augen liegt ein heiterer Spott gegen den, der von so vielem nichts weiß, und der zärtliche Stolz derer, die miteinander durch alle Höllen gegangen sind.“
…Törleß versucht von dem einen Teil seiner Erlebnisse, nämlich vom Kampf um das Sehen der Erscheinungen, der Lehrerschaft einen Begriff zu geben. Ohne den geringsten Erfolg. Von dem anderen Teil, dem scheuelvollen, träumen sie nichts. Wegen Diebstahls wird Basini, der Entwürdigte, zwangsweis entfernt. Törleß kehrt zu den Eltern zurück. Er weiß mehr als viele; hinter seinem Schweigen steht ein seltsam einmaliges Gelernthaben. Und das Leben liegt vor ihm.

V.
In seinem Bezirk ist dieses Buch ein Lebensbuch. Geschrieben von einem selbstständigem, nach Einsicht grabenden, tapferen Geist; dem Niedriges und Widriges darum fernliegt, weil es ihm, alles in allem, um das Bedeutungsvolle zu tun ist.
Kontrastierende Richtungen gibt es immer auf engem Raum; doch nicht immer ist die Scheidung so bequem wie etwa dazumal in Frankreich, als es hieß: Die Fresser für Balzac, die Schmecker für Musset – Les gloutons pour Balzac, les délicats pour Musset. Da aber Gustav Freytag tot ist, wird wohl Fressen als der Gegenpol solcher schürfenden, entschlossenen Versuche zu betrachten sein, wie Robert Musil einen mutig hinstellt. Jörn Uhl ist gewiß anders: aber Werke dieser Art sind nicht reiner, weil sie Sonne geben und Blauäugigkeit.
Ich liebe Schöpfer, die sich nicht kindlicher stellen, als sie sind; und denen sich mit dem Mut, nach jedem für Menschen ernsten Stoff zugreifen, die Kraft verbindet, Odem hineinzuweben.

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

von: Ludwig Hirschfeld
Am: Dezember 1906
in: Neue Freie Presse
[ÖNB: 4.3. 13,3]

–> Bibliographie

Beträchtlich ist in den letzten Jahren die Literatur über die erotische Jugendliteratur angewachsen, die schließlich in Hermann Hesses „Unterm Rad“ künstlerisch gipfelte. Deutsche und Nordländer haben diese Gattung eifrig gepflegt, auch Franzosen und Russen, nur Österreich hat nichts Markantes und Wertvolles beigetragen. Des Publikums jedoch hat sich allmählich ein Gefühl des Überdrusses bemächtigt; man traut diesen jungen Damen und Herren nicht mehr, die bloß vor ihrer eigenen langweiligen Tür zu kehren verstanden, denn das bischen Enthüllung und Skandal wog die unerträgliche Monotonie dieser Monologe in der dritten Person nicht auf. Und wenn ein Autor heute ein Stück seiner Jugend bloß legen will, so muß er es schon mit sehr viel Grazie und mit einem außerordentlichen künstlerischen Aufwand tun. – für die als Wahrheit vermummte Tatenlosigkeit sind wir nicht mehr zu sprechen.
Knapp vor Torschluß ist noch ein österreichischer Roman mit solchen Jugendbekenntnissen erschienen. Sein Verfasser, der Robert Musil heißt, scheint ein neuer Mann zu sein, obwohl er einen ziemlich gereiften Eindruck macht. Den Anfänger verraten bloß das Thema und die weitausholende Manier, die am liebsten alle ungelösten Fragen in einem Buch erörtern und lösen möchte.
Dagegen ist nichts von jener bald fahrigen, bald hölzernen Ungeschicklichkeit und Aufgeregtheit zu bemerken, die den Neulingen des Lebens und der Literatur eigentümlich zu sein pflegt. Wohl ist das Buch, wie sich von selbst versteht, eine Beichte, aber noch nie ist jemand so kühl und gelassen, ja überlegen im Beichtstuhl gekniet wie dieser Herr Robert Musil, und je haarsträubender seine Bekenntnisse sich gestalten, desto fühliger und gelassener wird er, und das macht sein Buch so merkwürdig.
Den Schauplatz der geringen äußeren Vorgänge bildet ein vornehmes Konvikt, irgendwo droben in Galizien. Die Situation ist die aller derartigen Romane: ein innen und außen zarter Bursch zwischen fünfzehn und sechzehn, nicht frühreif, wie man meistens fälschlich sagt, sondern frühgrübelnd und frühwirr. Diesmal heißt er Törleß und ist der Sohn eines Hofrates; rings um ihn einige innen und außen robuste Freunde, wie man in diesem Alter wahllos jeden nennt, mag er einem auch Schaden und Leid zufügen. Alle gebräuchlichen Gefühle des jungen Menschen finden sich hier vollständig beisammen: die Leere und die Einsamkeit; die tiefe innere Schamhaftigkeit des Stillen und Schüchternen, die heimliche, ziellose, auf kein bestimmtes Objekt gerichtete melancholische Sinnlichkeit des Heranreifenden und am allermeisten Verzweiflung, denn niemand verzweifelt so leicht und so gern wie die Jugend. Auch das Törleß die Liebe von der Dirnenseite kennen lernt und daß sie ihm darum als die schmutzigste und traurigste Angelegenheit von der Welt erscheint, ist leider keine neue Enthüllung mehr. Doch wer möchte diesen hübschen uniformierten Konviktpuppen mit den glatten, rosigen Gesichtern und dem zierlichen Degen an der Seite die Scheußlichkeiten und Verrücktheiten ansehen, von denen in diesem Buche berichtet wird. Von einer Stufe der Perversität sinken sie zur anderen – der Autor berichtet es kühl und versichert, daß derlei Vorkommnisse in Konvikten etwas ganz Alltägliches seien. Musil befleißigt sich dabei einer dürren Deutlichkeit, daß selbst Strindberg oder Wedekind neben ihm wie „Gartenlaube“- Autoren erscheinen, – und eben deshalb muß man ihn gegen den naheliegenden Verdacht einer unlauteren Spekulation ausdrücklich in Schutz nehmen. Nichts liegt diesem Autor ferner; ihm ist es nicht im mindesten um die Schilderung dieser Ausschweifungen zu tun, sondern um die Darstellung der wunderlichen und komplizierten Seelenzustände, die ihnen vorangehen und folgen. Auch sein kleiner Held Törleß nimmt langer Zeit nur aus psychologischem Interesse als Zuschauer daran teil, bis schließlich die verwirrte Seele dem Unheil nicht mehr zu gebieten vermag, aber dieser beklagenswerte Schlußpunkt einer langer Gedankenreihe erscheint Törleß kaum noch als etwas Verabscheuenswertes oder Außerordentliches.
Den breitesten Raum nehmen in dem Buche philosophische und psychologische Betrachtungen und Gespräche ein, die ihrem Horizont und der Ausdrucksweise nach gar nicht zu den Sechzehnjährigen passen wollen, sich aber in ihrer wirren Grenzenlosigkeit als das erste geistige Training von ganz jungen Leuten darstellen. Jünglinge bedürfen, wie es scheint, zu ihrer Entwicklung und zu ihrem Reifen gewissen Uebertriebenheiten und Ausschreitungen, und wie andere maßlose Rauf- und Sportbolde sind, begehen die jungen Leute hier philosophische und psychologische Ausschweifungen, die schließlich auch anderweitig ausarten. Nachts kommen sie auf abenteuerliche Weise in einem Dachbodenwinkel zusammen, um unverdaute Lektüre in Taten umzusetzen. Da werden die härtesten Probleme geknackt, als ob es Haselnüsse wären, da werden Kant und der Hypnotismus und die Theorie der imaginären Zahlen durcheinander geworfen – das Ganze macht den Eindruck eines höheren mystischen Indianerspieles, und man könnte es belächeln, wenn es nicht in so schmutzigen Sackgassen endete.
In Sackgassen? Der Autor ordnet die so gleichmütig geschilderten Verwirrungen in der glättesten und selbstverständlichsten Weise. Die Exzesse finden dadurch ein natürliches Ende, daß ihr wichtigster Teilnehmer relegiert wird; natürlich das Opfer und nicht die Schuldtragenden, denn der Lehrkörper erfährt kaum den zehnten Teil der Wahrheit und bekunden in der ganzen Sache eine rührende Ahnungslosigkeit, ein echt pädagogenhaftes Unverständnis dessen, was in Knabenseelen vor sich geht. Die Mehrzahl der Lehrer versteht nicht einmal die Antworten, welche die Knaben im Verhöre geben. Auch Törleß tritt aus dem Konvikt aus, freiwillig, weil er fühlt, daß er hier nicht mehr am Platze sein. Ganz gemütsruhig und ohne die mindesten Gewissensbisse verläßt er die Stätte seiner Verwirrungen. „Eine Entwicklung war abgeschlossen, die Seele hatte einen neuen Jahresring angesetzt, wie ein junger Baum – dieses noch wortlose, überwältigende Gefühl entschuldigte alles was geschehen war.“ Nur eine leise grüblerische Müdigkeit ist zurückgeblieben, wie nach einer Nacht voll böser Träume. Von solchen pflegen ja junge Leute heftiger heimgesucht zu werden als Erwachsene, und Törleß hat so einen bösen Traum wirklich gelebt. darum fühlt er sich jetzt müde, sehr müde, vielleicht fürs ganze Leben, aber auch viel ruhiger und älter. Und nun kommt seine Mutter, um ihn wieder nach Hause zu bringen, und kühl und gelassen fährt er hinaus ins Leben der Erwachsenen.
Das Buch ist mit einer beabsichtigten Trockenheit und Zurückhaltung geschrieben, es wird darin mehr berichtet als erzählt. Nur an einigen Stellen leuchtet es hastig poetisch auf, gleichsam wider den Willen des Dichters, als den man Robert Musil bezeichnen darf. Denn wer solche zügellosen Begebenheiten so herb darzustellen vermag, wer inmitten all dieser Verwirrtheit nicht die literarische Besonnenheit verliert, der besitzt über den Durchschnitt ragende Fähigkeiten, mögen an seinem Buche auch Mängel der Zeichnung und Komposition und noch allerhand Untugenden zu rügen sein. Eine bloße ästhetische Wertung dieses Erstlingswerks würde uns jedoch an seiner eigentlichen Bedeutung blind vorübergehen lassen. Auch über die oft ans Widersinnige grenzenden Anschauungen soll man mit dem Autor nicht rechten. Das untersteht so wenig der Kritik, wie die Erzählung eines Menschen von seinem wirren Traume. Doch wie ein Traum im Zusammenhang mit den Erlebnissen und Eindrücken, die ihn auslöten, tiefe Bedeutung gewinnen kann, so wird auch dieses Buch unversehens und unbeabsichtigt zu einem Dokument der Zeit – wider die Zeit. Wider gedankenlose Eltern, die an ihren Kindern bloß sehen, ob sie rote Backen und einen sauber gewaschenen Hals haben; wider gedankenlose Lehrer, die das Kindergehirn als einen blaßen Trichter für Wissen und Disziplin betrachten, wider alle die dilettierenden und berufsmäßigen Pädagogen, welche die ihnen ausgelieferte Jugend nicht verstehen, weil sie ihre eigene vergessen oder weil sie überhaupt niemals eine gehabt haben.