Brünner Veröffentlichungen 1898–1902
Nachwort des Herausgebers (Walter Fanta)
Robert Musil behauptete 1937 von seinen literarischen Anfängen, er habe bereits als Fünfzehnjähriger unter Pseudonym seine erste Novelle publiziert, die allerdings »nur geringen Erfolg« gehabt habe; doch hat sich eine zu diesen Angaben passende Veröffentlichung nie auffinden lassen. Als Sohn des Rektors der Technischen Hochschule und als ins Kulturleben integrierter Student erhielt der junge Musil jedenfalls schon früh Gelegenheit zu öffentlichen Auftritten in Brünn. Er nahm an diversen literarischen Vorträgen und Theateraufführungen im Deutschen Haus teil, war Mitglied im Deutsch-Akademischen Leseverein und im 1900 gegründeten Fechtklub aktiv. Ein Artikel über Fechtsport, den er am 22. April 1902 im Tagebuch erwähnt (Heft 4, S. 46–47), ist ebenso verschollen wie Primanerdramen, die er in seinen späten Aufzeichnungen erwähnt (Mappe III/5, S. 64). Literarische Vorbilder und Anreger für ihn waren Nietzsche, Schaukal, Maeterlinck, Emerson, Dostojewski, Hauptmann, Novalis sowie die Autoren des Jungen Wien, allen voran Peter Altenberg. Zu Beginn des Jahres 1900 engagierte sich Musil unter der Patronanz von Eugen Schick für den Aufbau eines Dichterkreises nach dem Vorbild der frühen Wiener Moderne. Die Gründung einer »Freien Vereinigung zur Pflege der modernen Kunst« wurde im April 1900 anlässlich eines Brünner Autorenabends in den Räumen des Gewerbemuseums von Musil selbst angekündigt. In seiner Einleitungsrede versprach er Vorträge, Theatervorstellungen und die Herausgabe eines literarischen Almanachs für die folgende Saison, anschließend las er als Erster der »Jung Brünner« seine Kurzprosa Variété. Ein Jahr später kam es zur Gründung einer »Neuen akademischen Vereinigung« anlässlich eines Abends im Deutschen Haus, in der Musil wieder eine führende Stellung einnahm. Der Mährisch-Schlesische Correspondent berichtete: »wir wollen hier der einleitenden Worte des Herrn Musil nicht vergessen, in denen er unter anderem der Ansicht der mitwirkenden Autoren Ausdruck verlieh, daß sie selbst sehr bescheiden über ihre ›Autoren‹-Würde denken und durchaus in sich selbst nicht das literarische Jung- oder Jüngst-Brünn verkörpert wissen wollen, sondern daß der Zusammenschluss ein ganz zufälliger sei.« In seiner Begeisterung für das Theater bewarb sich Musil im Frühjahr 1899 vergeblich um eine Kritikerstelle beim Mährisch-Schlesischen Volksfreund. In der Brünner Sonntags-Zeitung, wie der Volksfreund den Sozialdemokraten nahestehend, wurde das Gros der frühen Musil-Texte entdeckt, ein Verdienst des Brünner Historikers Vojen Drlík.
Eine spiritistische Seance
Der mit dem Pseudonym »Robert« gezeichnete szenische Text ist als früheste Publikation des jungen Musil anzusehen. Sie erschien in der Brünner Sonntags-Zeitung am 20. Februar 1898 unter der Rubrik »Literaturblatt«; unmittelbar anschließend findet sich eine kurze »Bücherschau«. In seiner witzig-pointierten Form steht der sketchartige Text wohl im Gegensatz zu den nicht überlieferten frühen lyrischen Versuchen, die Musil 1939 im Tagebuch erwähnt (Heft 30, S. 94).
Entwurf eines Wahlgesetzes
Bei der ersten Buchbesprechung Musils unter dem Kürzel »r«, entdeckt von Vojen Drlík in der Brünner Sonntags-Zeitung, in der er sich kritisch zum Prinzip des Verhältniswahlrechts äußert, handelt es sich wohl auch um seine erste politische Stellungnahme.
In der Dämmerung
Musils unter dem Pseudonym »M. Robert« in der Brünner Sonntags-Zeitung vom 5. November 1899 veröffentlichter Prosatext kann wohl als eine Art Urzelle des Romans Der Mann ohne Eigenschaften bezeichnet werden. Das Motiv der Geschwisterliebe, in der der männliche Protagonist die rational bestimmte Führungsrolle übernimmt, die Realität ästhetisch »stilisiert« und sich zugleich von der »suggestive[n] Kraft« der sie umgebenden Atmosphäre gefangen nehmen lässt, tritt darin bereits hervor. Der Text erinnert an das früheste im Nachlass erhaltene Gedicht Musils Und ihm erschloß sich (Heft 4, Einlagen, S. 27 – siehe Bd. 11), das in dieselbe Zeit datiert werden kann.
Neue Bücher
Für die Buchrezensionen in der Brünner Sonntags-Zeitung waren bis kurz vor der Jahrhundertwende Eugen Schick und Richard von Schaukal verantwortlich, bis Jungautoren wie Musil auftraten, die durchwegs unter Namenskürzeln publizierten, Musil mit »r.« bzw. »Robert«. Er veröffentlichte von März 1899 bis Januar 1900 fünf Buchrezensionen. In der ersten Kritik Bunte Blätter zeigte er sich stilistisch an die Vorläufer angepasst, ab Die Gioconda, wo er zum ersten Mal mit seinem Vornamen unterzeichnete, erhob sich der junge Autor durch ein reflektiertes Urteil über das übliche Niveau.
Variété
Der im Nachlass erhaltene Entwurf (Heft 4, S. 11) stimmt bis auf wenige Einzeländerungen mit der in der Brünner Sonntags-Zeitung veröffentlichten Fassung überein. Eine Vorstufe, in der das Thema anklingt, findet sich in einem Exzerpt aus der Poetik des Aristoteles von Anfang 1899, in dem die Wirkung des Varietés auf die Zuschauer beschrieben wird (Heft 3, S. 10). Die Entdeckung dieser ersten mit dem vollen Namen gezeichneten Publikation ist Vojen Drlík zu verdanken, wie auch der Zeitungsbericht über den Jung-Autoren-Abend im Brünner Gewerbemuseum im Mährisch-schlesischen Correspondenten vom 31. März 1900, in dem Variété als »nette Skizze im Style Peter Altenberg’s« bezeichnet wird. Zu identifizieren ist der Autor des zu der Zeit bereits geplanten und begonnenen Ich-Romans, von dem Blätter aus dem Nachtbuche des monsieur le vivisecteur am Beginn von Heft 4 im Nachlass erhalten sind; Variété war darin als Romankapitel gedacht (Heft 4, S. 1, Einlagen, S. 2 – siehe Bd. 11). Wie In der Dämmerung ist auch Variété ein früher literarischer Schlüsseltext, dessen Motive sich im Mann ohne Eigenschaften wiederfinden. Die Chansonette Rosa taucht dort als gefräßige Geliebte Leona wieder auf, die Figur des unverstandenen Dichters nimmt die Doppelgänger-Existenz Ulrich/Moosbrugger vorweg. Ein Varieté ist in den 1920er-Jahren als Szenerie für den Roman vorgesehen. (Mappe VII/8, S. 77) Das Varieté-Motiv spielt auch in der Novelle Grigia eine Rolle.
Lachende Gedanken
Die auf Doppeldeutigkeiten aufbauenden humorvollen Aphorismen erschienen am Silvesterabend des Jahres 1902 im Feuilleton des Mährisch-Schlesischen Correspondenten. Die Autorschaft lässt sich aus dem Pseudonym »R. O. Bert« erschließen.