Tonka – Genetischer Kommentar
GA Bd 8 – Nachwort des herausgebers, S. 598-610

{1} Die Entstehungsgeschichte ist stark verzweigt, da der Stoff lange Zeit mit Musils frühen Romanprojekten und mit den Vereinigungen verknüpft war. Es befinden sich im Nachlass in 5 Heften und 4 Mappen verstreut auf insgesamt 120 Manuskriptseiten einzelne Notizen und Entwürfe von jeweils einigen Seiten, die als Vorstufen der Novelle zu werten sind, allerdings kaum längere zusammenhängende Texte. Den Beginn bildet eine Notiz vom 20. April 1904: »Zu einer Erzählung: Ein förmlich antinomischer Konflikt ist folgender: Denken wir, ich müßte H. Fremden überlassen. Was für mich Natur, Treuherzigkeit, Naivität, stärkster Reiz war, ist für den Fremden Mangel an Erziehung, Charakteristikum des ›unter dem Stande‹ usw. Er kann nicht wissen, was mir gerade diese Eigenschaften wurden u. muß irgendein Raffinement vermuten (man findet häufig, daß ›solche‹ Mädchen gebildete, einsame junge Männer ›festhalten‹), mit dem sie mich anzog.« (Heft 11/10)

{2} Mit H. ist offenbar Musils proletarische Jugendliebe Herma Dietz gemeint. In Heft 3 sammelte der Autor von 1906 an Motive zu einem literarischen Projekt um die Protagonistennamen Herma, später Hanka, Tonka und Robert bzw. Hugo. Es fällt schwer zu beurteilen, inwiefern die halb journalartigen, halb fiktionalen Aufzeichnungen dem faktischen Verlauf der Beziehung Musils mit dem Brünner Ladenmädchen entsprechen. Karl Corinos zirkuläres Verfahren, das die Biographie aus den Hefteintragungen erschließt und die fiktionalen Texte aus der Biographie erklärt, fehlt in diesem Fall die externe Verankerung: Der Biograph konnte außerhalb von Musils Aufzeichnungen kein einziges Lebenszeugnis von Herma Dietz entdecken. Es ist nicht auszuschließen, dass sich die »Tragödie des Mißtrauens« (Mappe IV/2, S. 448) mehr oder weniger so zugetragen hat, wie es die Novelle beschreibt (Corino 2003, S. 273–289). Oder Musils Erinnerungsarbeit ließ ihn in Manövern der Fiktionalisierung, die in den Heftskizzen einsetzten, in einem fast 20-jährigen Schreibprozess schließlich zu einem Konzept ästhetisch gestalteter Wahrheitserfindung gelangen.

{3} Als Beweisstück dafür existiert eine bereits literarisch geformte und zu einem längeren Entwurf gestaltete textgenetische Urszene, die Sterbe-Szene. Von Musil selbst als »Schlußszene« (Mappe IV/2, S. 478) betitelt, spielt sie eine ähnliche Rolle wie die Heustadl-Szene für Grigia und sie gleicht auch auffallend der erwähnten Kopf-Szene im textgenetischen Dossier von Die Portugiesin. Im Archivierungssystem Musils von 1919/1920 befindet sie sich auch in der Nähe der Kopf-Szene, fast am Ende eines Konvoluts mit Tonka-Motiven. Geschrieben ist sie mit schwarzer Tinte, zahlreiche Korrekturen mit Bleistift stammen aus einer späteren Schreibphase. Das äußere Erscheinungsbild des Entwurfs ähnelt dem der Kopf-Szene, das Querblatt bzw. das Kanzlei-Doppelblatt ist eher dicht und ohne Rand mit dem Entwurfstext beschrieben. Die Beschriftungsweise unterscheidet sich deutlich von jener der Hefteintragungen Musils mit Tagebuch-Charakter. Der fiktionale Anspruch wird bereits aus dem ersten Absatz des Entwurfs deutlich: »Schlußszene: Das ärmlich bürgerliche Zimmer, in dem H. starb. […] Robert sitzt stumm auf dem zerrissenen roten Samtsofa – er sieht fort die wachsgelben ineinander gesteckten Finger an. Plötzlich fällt ihm ein: sie hing ja an den Gebräuchen ihrer Religion und er schickt Frau P. um Kerzen und Blumen. Aber es ist Herbst und keine Blumen in der Nähe zu bekommen. Nur Astern und kümmerliche Rosen mit braunen Rändern an den Blättern. Nur die Kerzen brennen wie es sein soll, mit einem feinen wehmütigen Duft.« (Mappe IV/2, S. 478) Die Signale fiktionaler Verfremdung sind unübersehbar. Die Personen sind zu Figuren geworden, sie heißen H. (= Herma), Frau P. (= Frau Prawdzik) und Robert. Besonders durch die Perspektivenverschiebung in die dritte Person kommt zum Ausdruck, dass die Grenze zur fiktionalen Gestaltung eines imaginierten Geschehens überschritten ist.

{4} Die Abfassungszeit ist schwer zu bestimmen. Weder ist der Zeitpunkt des Todes von Herma Dietz bekannt (Corino vermutet November 1907) noch besteht ein Hinderungsgrund, den Entwurf der Schluß-Szene in eine spätere Produktionsphase zu datieren, in der Tonka bereits als eigenständiges literarisches Projekt existierte. Karl Corino hält sich bei der biographischen Rekonstruktion an die Sterbe-Szene, für ihn gehört sie zum »eindrucksvollsten aus Musils Feder überhaupt. Umso bedauerlicher, daß sie der Selbstzensur zum Opfer fiel.« (Corino 2003, S. 283) Dass Musil die Gestaltung des Abschieds des Protagonisten von der toten Tonka später in der Novelle fallen ließ, ist aber nicht nur biographisch, sondern auch ästhetisch motiviert. Dass Musil die Sterbe-Szene bereits zum Zeitpunkt der Abfassung des Entwurfs als narratives Dispositiv betrachtete, geht indirekt aus den abschließenden Anmerkungen hervor: »In der Szene: läuft Robert weg und Herma stirbt allein, – der Majestät des Todes gegenüber wie ein kleines Vogerl, – unter schrecklicher Angst – zweimal schrie sie ›Robert‹. Dazwischen die Szene mit der Mutter, in der die intellektuelle Lösung erfolgt.« (KA, Mappe IV/2, S. 479) Musil bezeichnet die Sterbe-Szene eben als »Szene«, über die er kompositorisch frei verfügt; er ordnet die Szenen nicht der biographischen Wahrheit entsprechend an, sondern nach erzählerischen Gesichtspunkten. Wer so verfährt, dem ist auch zuzutrauen, dass er Geschehen und Erleben innerhalb der Szene frei gestaltet.

{5} Musils anfängliche Überlegung, die Geliebte zur Figur einer Erzählung zu machen, um sich von ihr zu lösen, wandelte sich etwa 1906/1907 zur Entscheidung, den immer umfangreicher werdenden Komplex von Notizen und kleinen Skizzen in das bestehende Projekt eines autobiographischen Romans zu integrieren, eine Frühstufe dessen, woraus viel später der Mann ohne Eigenschaften wurde. Die Herma-Geschichte war darin als zweiter Romanteil nach dem Einleitungskapitel (Heft 4, S. 89–125) vorgesehen. Die Aufzeichnungen aus dieser Zeit zeigen Musils Versuche zur Fortsetzung der beiden Romanteile, wobei die Geschichte dreier Personen (Robert, Gustl, Clarisse) mit der »Tragödie« Hermas/Tonkas erzählerisch weiter verknüpft werden sollte.

{6} Ab Frühjahr 1908, in einer literarisch fruchtbaren Phase nach Beendigung der Dissertation und der Annäherung an seine spätere Frau Martha Marcovaldi, kam es zu einer nochmaligen Erweiterung des Romankonzepts  und Tonka erhielt vorübergehend den Namen Hanka (Mappe IV/2, S. 286, Heft 11, S. 57, Heft 11, S. 64f.). Wenig später schien die »Tragödie des Mißtrauens« gegenüber dem nun hinzutretenden neuen Hauptthema des Romanprojekts, der Geschwisterliebe, in den Hintergrund zu geraten. Nach Mitte 1908 zeichnete sich die Tendenz ab, aus dem Tonka-Stoff eine eigenständige Erzählung zu formen, durchaus als Parallelprojekt zu den beiden Novellen der Vereinigungen, an denen Musil nun intensiv schrieb. Er legte eine Art Zettelkasten für die Einzelmotive an und versuchte erzählerische Sequenzen zu gliedern und neu zu formulieren. Zwar dürfte Musil die Zettel nicht in eine Kartei geordnet haben, aber er begann zu einem kaum zu bestimmenden Zeitpunkt, die Tonka-Motive aus den Heften auf Zettel abzuschreiben, sie durch weitere Ideen und Einfälle zu ergänzen und dies mit dem bereits auf Blättern und Zetteln Vorhandenen zusammenzuführen. Wahrscheinlich sammelte er die Zettel in einer Mappe; erst wesentlich später, in der ersten Jahreshälfte 1920, siglierte er die Tonka-Zettel mit AN-Siglen. Das Arrangement vermittelt den Eindruck, als wollte er das Material für eine Niederschrift bereitstellen, für die die Zeit noch nicht gekommen war. Manches deutet darauf hin, dass er Tonka noch immer im Zusammenhang mit dem geplanten Roman sah, den er sich erst nach dem Abschluss der Vereinigungen vornehmen wollte. Es blieb bis nach dem Ersten Weltkrieg in Schwebe, ob Tonka einen Teil des Romans oder eine eigene Novelle bilden sollte. Wann die Übertragung aus den Heften in den Zettelkasten und die Ergänzung mit neuen Ideen zeitlich anzusetzen ist, kann nur vermutet werden: Entweder geschah dies während der intensiven Arbeit an den Vereinigungen, also 1909–1910; es ist gut denkbar, dass er sich die Opusfantasie in dieser Zeit gewissermaßen vom Leib hielt, indem er Tonka in den Zettelkasten verbannte. Oder die Einrichtung des Zettelkastens erfolgte erst nach der Fertigstellung der Vereinigungen, also 1911–1912; dies würde eine Rückkehr zu den zwischenzeitlich liegen gelassenen Projekten bedeuten.

{7} Selbstexzerpte (Mappe IV/2, S. 442–466) auf 27 Seiten des Zettelkastens dienen der Verfestigung des imaginierten Plots vor der erzählerischen Ausgestaltung. Auffallend ist das Festhalten an den Real­namen und an der älteren Orthographie der Erstschrift; Musil hatte in seiner Schreibpraxis mittlerweile die neue Orthographie nach der Orthographie-Reform von 1902 übernommen. Die Bewahrung der Namen und Schreibweisen der Vorgabe beim Abschreiben legt nahe, dass Musil in dieser Phase zur erzählerischen Aus- und Umgestaltung noch kaum bereit war. Wohl aber legt sich beim Transfer der Opusfantasie von Heft auf Zettel hier und dort eine Schicht Reflexion an. Die »versteckte Parallele« (Mappe IV/2, S. 445) zwischen der Mutter Hermine und dem Mädchen Herma modifizierte er durch den Namenswechsel zu Tonka. Ähnlich verwandelte er einen Sektionsrat Reichle, hinter dem sich Heinrich Reiter verbirgt, der reale Hausfreund bei den Eltern Musils, mit geringfügiger Fiktionalisierung zum Onkel Hyazinth der Endfassung (Mappe IV/2, S. 449). Das erzählerische Grundthema der Eifersucht untersuchte er in seinem Wesen: »Warum ist dieser Mensch so eifersüchtig? Tonka ist ja nur eine Auslösung, woher stammt aber die Disposition?« (KA Mappe IV/2, S. 453) Die Zergliederung der Gefühle weist voraus auf den gefühlspsychologischen Traktat in den Druckfahnen des Mann ohne Eigenschaften von 1938: »Man sagt die Gefühle seien evident. Das ist z. T. richtig, daß ich etwas fühle, wenn ich zb. eifersüchtig bin, ist evident; daß ich aber Eifersucht fühle, ist gar nicht evident. Das ruht auf Vorstellungen und ist mit allen Unsicherheiten dieser behaftet. Man kann in seinem Zimmer sitzen, von Eifersucht gequält sein und sich sagen, daß man gar nicht eifersüchtig ist, sondern irgend etwas anderes, Entlegenes, merkwürdig Erfundenes. Was fühlt man denn, wenn man eifersüchtig ist? Nicht Eifersucht, sondern daß man jemand töten möchte udgl. Und eine Qual.« (Mappe IV/2, S. 453) Es fehlt in den Notizen nicht an psychologischen Ausführungen, um die Untreue als Resultante des Misstrauens zu erklären: »Wenn man einmal begonnen hat, an einem Weibe zu zweifeln, kann man alles, auch die rührendsten Ergebenheitsbeweise bezweifeln. Denn gerade sie können eine subtile Form der Untreue verstecken und in solchen Subtilitäten ist man stark. Andrerseits fängt bei einem gewissen Niveau dieser Empfindungen die allgemeine Skepsis an. Und diese richtet sich dann gleichermaßen gegen die verdächtigenden Motive, so daß man in eine völlige intellektuelle Anarchie gerät.« (Mappe IV/2, S. 461f.)

{8} Am Ende der Zettelkasten-Phase stehen zwei auf das Novellenganze bezogene Synopsen (Mappe IV/2, S. 424–427). Es handelt sich um einen für Musils Schreiben wesentlichen Schritt, die Fixierung der äußeren Handlung in einem Rohentwurf, um eine möglichst umfassende Niederschrift der Opusfantasie vor ihrer Umsetzung in einer Entwurfsfassung.

{9} Die erste der beiden Synopsen ist auf zwei Querdoppelblättern mit Tinte geschrieben, mit römischen Zahlen in fünf Abschnitte gegliedert, die Konzept und Programm der Erzählung enthalten, in einer Mischung aus metafiktionaler Programmatik und Formulierungsansätzen. Im ersten Abschnitt greift Musil auf das Motiv des Briefs an die Mutter zurück, bevor er im zweiten Abschnitt einen neuen erzählerischen Rahmen schafft, indem er einen Erzähler einführt: »Durch mehrere Jahre habe ich es mir überlegt, ob ich die Geschichte dieses jungen Mannes, der Nestor von Dobransky hieß, erzählen soll, und die seiner Geliebten, von der ich nur den Vornamen Tonka weiß, während ihr Familienname einer jener schönen tschechischen war, die er ging über die Wiese oder der Mond ist aufgegangen oder es singt in den Büschen heißen, und die Geschichte seiner Mutter, die als die Gattin eines pensionierten Majors und Gutsbesitzers in einer Provinzhauptstadt Österreichs lebte, ob ich also die ineinander geflochtene Geschichte dieser drei Menschen erzählen soll. Denn ich will kein Erzähler sein. […] Auch hätte ich die Geschichte nicht niedergeschrieben, wenn sie nicht so banal wäre.« (Mappe IV/2, S. 424) Indem der Protagonist einen Namen erhält und über sich erzählen lässt, statt selbst zu erzählen, verschiebt sich die Erinnerungsarbeit. Die Verschiebung wird später zurückgenommen; in der Endfassung ist das sich erinnernde und das erfindende Ich wieder ganz mit dem fiktiven Autor der Erzählung verschmolzen. Im dritten Abschnitt der Synopse formuliert Musil die Fabel: »Es ist die Geschichte eines jungen Mannes aus guter Familie, der ein Mädchen aus niederem Stande gernhatte, ihm ein Kind machte und es verließ. Mit einigen Besonderheiten, die gegen das soziale Gesetz dieses Falls nicht in Betracht kommen dürfen. Dann einer Mutter, die wie es sich gebührt, alles daransetzte, um ihren Sohn wie ein festgefahrenes Schiff wieder flott zu kriegen […]. Endlich die Geschichte des Mädchens, das stumm litt und starb, wie es die Dichter lieben.« (Mappe IV/2, S. 424) Es tun sich Widersprüche zwischen den Versionen der Geschichte auf, zwischen der Nestors, der Mutter und des Mädchens. Tonkas Version ist aber nicht die ihre, denn Tonka bleibt stumm; Tonkas Version ist die erdichtete. Damit ist die Opusfantasie bis zur Programmatik der Endfassung vorgedrungen. Im vierten Abschnitt der Synopse folgt wieder ein Anfangsentwurf: Geschildert wird ein Ausritt Nestors mit seinem Offizierskameraden Mordansky, auf dem er, bevor er Tonka kennenlernt, sein Begehren formuliert: »Ich würde gern mit so einem Mädel ein Verhältnis haben. Es wäre doch etwas anderes als die Weiber. Es wäre ein Fohlen, frisch von der Weide eingefangen.« Im fünften Abschnitt entwirft Musil die Entstehung von Nestors Misstrauen.

{10} In der zweiten Synopse (Mappe IV/2, S. 426), auf einem zur Hälfte mit Tinte beschriebenen Querblatt, hat Musil folgende Kernwörter mit blauem Stift unterstrichen: »Zimmer«, »Rufzeichen«, »beweisen«, »Friedm.« (= Friedmann) und »Tenor« (als Nebenbuhler verdächtig), »durcheinander-geschoben«. Im Fokus dieser Synopse steht die Misstrauens- und Wahrheitsthematik. Deutlich wird aus der konzentriert notierten Opusfantasie, wie sich zwei Geschehnisverläufe voneinander abheben, die Realität dessen, was geschehen ist, und der (vergebliche) Versuch der Wahrheitsfindung des Protagonisten. Dieser »hatte sich der Stringenz verwehrt […] wie ein erkenntnistheoretischer Korbflechter«. Die Erinnerungsarbeit verschmilzt in der Opusfantasie der Wahrheitsfindung; ein bipolares Spannungsfeld tut sich auf, von dem der Endtext noch zehrt. In der Synopse kommt dieses als Bedauern des Protagonisten über eine »Welt, die den Begriff Wahrheit nicht kennt«, zum Ausdruck: »Der vernünftige Mensch, der praktische Mensch muß dem theoretischen helfen. Und er fühlte, daß hier ebensogut ein einfaches Lied gegen die wissenschaftliche Wahrheit stand.« Unter der Synopsis findet sich ein Zusatz mit Bleistift, in dem Musil in Form einer imperativischen Selbstanleitung die Maximen zur Gestaltung festzulegen versucht: »Gedanken in Stimmungen auflösen. Zwischenhinein aber auch ein Vorschreiten der Handlung. Das ganz Zerrissene und Durcheinandergeschobene in diesem Menschen muß selbst in den Gedanken an Tonka und die Kindheit zur Geltung kommen. Das Idyllische, Wehmütige nur wie ein Darübertönen.« (Mappe IV/2, S. 426)

{11} Musil hätte Tonka vor dem Ersten Weltkrieg schreiben können, die Vorarbeiten dafür waren getan. Ob er es versuchte, wissen wir nicht genau, da die weiteren Entwicklungsstufen nicht vorhanden sind. Aber es ist nicht anzunehmen, dass sie in die Vorkriegszeit fallen, da Querverweise darauf in den Indizes und Registern der Nachkriegszeit gänzlich fehlen. Wir können also davon ausgehen, dass Musil die Arbeit an Tonka schon vor oder während oder nach der Abfassung der Vereinigungen abbrach und das Material verschnürte. Auf einem Zettel des Tonka-Zettelkastens mit der Sigle AN 63 steht mit Bleistift: »Gedächtnisblätter. Mit einem ein Meter langen Strahn von Tonkas Haar verschnürt, den er ihr in der brutalen Sentimentalität der Abschiedsstunde abgeschnitten hat.« (Mappe IV/2, S. 418) Ob Musil selbst die Zettel so aufbewahrt hatte oder das Ritual des Verdrängens seiner Figur andichtete, die Verschnürung löste er erst 1920 wieder auf, als er die Zettel mit AN-Siglen versah. Unterbrechungen im Schreibprozess gab es bei Musil öfter, bei den Schwärmern, bei den anderen beiden Texten aus Drei Frauen, auch beim Mann ohne Eigenschaften – die im Fall von Tonka ist jedoch bei weitem die längste.

{12} An ihrem Ende landete Tonka wieder im Romanfundus, bei den »Zwanzig Werken«, die Musil in den Jahren 1918/19 imaginierte, beim »Archivar« und bei dem Roman, der bis 1921 den Titel Der Spion trug. In seinen Heftnotizen nahm Musil 1920 das erste Mal wieder Bezug auf Tonka. Wie sich der Stoff in das aktuelle Programm einfügen könnte und wie er sich aber auch widersetzte, geht aus der Eintragung in Heft 8 hervor: »Die Jugendgeschichte Achilles’ könnte im Archivar nachgeholt werden. […] Tonka plus Archivar gibt recht viel Unerfreuliches. Man muß wohl das Komischste, das zur Verfügung steht, damit kuppeln. […] (Aber diese Episoden vielleicht Walther geben oder dem Archivar.) […] Das Traumhafte des wirklichen Lebens, das in den Tonkanotizen oft vorkommt, wäre ein Vorklang zu Clarisse. Das Ziel ist Darstellung der großen Unsicherheit und Verworrenheit […].« (Heft 8, S. 83)

{13} In der Frage der Integrierbarkeit deutet sich bereits an, dass Tonka aus dem Roman wieder ausscheiden würde. Dies geschah 1921 bei den ersten Schritten zur Niederschrift in einer Vorstufenfassung (Der Erlöser). Nun gab Musil dem Stoff die Unabhängigkeit einer eigenen Erzählung. Den äußeren Anstoß, »etwas kurz [zu] verfahren« (Mappe I/7, S. 36) und ihn doch zu einer Novelle zu formen, erhielt Musil im Herbst 1922 wahrscheinlich aus dem Bedürfnis, seine Einnahmen aus der literarischen Produktion zu steigern, nachdem er die Anstellung als Fachbeirat im Heeresministerium verloren hatte und die Romanarbeit, deren Ende nicht absehbar war, unterbrechen musste. In einem Brief vom 19. Oktober 1922 berichtete Martha Musil an ihre Tochter Annina: »Robert arbeitet sehr viel, gestern hat er nicht einmal zu Mittag gegessen, weil er ›Tonka‹ fertig machen will, es scheint, daß sie heute fertig wird. (Dann bleibt sie etwas liegen und wird noch einmal überarbeitet.)« Am 30. Oktober schrieb Musil selbst seiner Stieftochter, er habe Tonka »etwa zur Hälfte ins Reine geschrieben«, sie sei »miserabel«. Am 24. Dezember 1922 bot Musil Carl Seelig »das Manuskript einer Novelle« an, bei der es sich um Tonka handeln muss, »ungefähr 50 Maschinseiten lang«. Zwischen dem Erstdruck Anfang März 1923 in Der Neue Roman und der ersten Buchausgabe von Drei Frauen bei Rowohlt im Februar 1924 erfuhr der Text zahlreiche Veränderungen, teilweise über das Stilistische hinaus. Doch von der intensiven Entwurfsphase im Herbst 1922, den Druckvorlagen und Fahnenkorrekturen vom Beginn des Jahres 1923 und der Überarbeitung Ende 1923 ist nichts erhalten. Die zu diesem Zeitpunkt zehn bis fünfzehn Jahre alten Zettel aber archivierte Musil in einem hellgrünen Konvolutumschlag, auf den er schrieb: »Tonka, abgelegt, nach AN geordnet, kaum noch zu verwenden« (Mappe IV/2, S. 411). Dass er dies aus Sentimentalität tat, ist nicht auszuschließen. Dass er die »Gedächtnisblätter« mit einem »Strahn von Tonkas Haar« verschnürte, bildet einen Bestandteil der aus dem Novellentext getilgten Spur der Opusfantasie.