Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

Nachwort des Herausgebers (Walter Fanta)

{1} Musil reizten die Geschehnisse, die er während seines Aufenthalts in der k. u. k. Kadettenanstalt in Mährisch-Weißkirchen (heute: Hranice, Tschechien) 1895–1897 »mitangesehen« hatte und die »in entscheidenden Dingen anders [waren], als ich es später darstellte«, zunächst nicht, um darüber zu schreiben. 1901 »schenkte« er angeblich »alles, was in der Geschichte an ›Milieu‹, an ›Realität‹ und ›Realismus‹ vorkam«, den Brünner Schriftstellern Franz Schamann und Eugen Schick. Er nahm an, dass die Gewaltexzesse im Internat für deren naturalistische Darstellungsgabe besser geeignet wären. »Ich selbst war damals ganz unbestimmt; ich wußte nicht, was ich wollte, und wußte bloß, was ich nicht wollte, und das war ungefähr alles, was zu jener Zeit für das galt, was man als Schriftsteller tun sollte.« Schamann und Schick wussten mit dem Stoff allerdings nichts anzufangen, Musil aber griff ihn 1902 wieder auf. Dreißig Jahre später erklärte er dies im Entwurf zu einem »Vermächtnis« so: »Ich war 22 Jahre alt, trotz meiner Jugend schon Ingenieur und fühlte mich in meinem Beruf unzufrieden. […] Jeden Abend um halb neun Uhr besuchte mich eine Freundin, aus dem Büro kam ich aber schon um sechs Uhr nach Hause, Stuttgart, wo sich das abspielte, war mir fremd und unfreundlich, ich wollte meinen Beruf aufgeben und Philosophie studieren (was ich bald auch tat), drückte mich von meiner Arbeit, trieb philosophische Studien in meiner Arbeitszeit und am späten Nachmittag, wenn ich mich nicht mehr aufnahmefähig fühlte, langweilte ich mich. So geschah es, daß ich etwas zu schreiben begann, und der Stoff, der gleichsam fertig dalag, war eben der der ›Verwirrungen des Zöglings Törleß‹« (Mappe I/7, S. 36).

{2} In der Tat bilden philosophische Studien das einzige im Nachlass dokumentierte Umfeld der Niederschrift von Musils erstem Roman. Es handelt sich um ausgedehnte Exzerpte aus Nietzsches Der Fall Wagner bzw. Götzen-Dämmerung, Emersons Lebensführung und Hartmanns Philosophie des Schönen, wiederholte Lektüren Kants und die Beschäftigung mit Machs Populär-wissenschaftlichen Vorlesungen. (Heft 4, S. 67–86) Außer in Stuttgart, wo er bis August/September 1903 eine Stelle als Volontärassistent der Material-Prüfungsanstalt an der Technischen Hochschule bekleidete, schrieb Musil an dem Roman vermutlich in Brünn, vielleicht auch in den Urlaubsorten Schladming (1903) und Pörtschach (1904); fertig gestellt wurde er jedenfalls erst in Berlin, wo Musil 1903 sein Studium der Philosophie und Psychologie begann. Eine erste Erwähnung findet die Arbeit am »dummen Roman« im Brief an eine Förderin des jungen Musil, als ein Werk, das »ganz sicherlich nicht sehr innig zu mir gehört, d[as] zu vollenden ich mir aber nun einmal in den Kopf gesetzt habe« (an Tyrka-Gebell, 1. August 1903). Den Abschluss vermeldete er der in Graz lebenden mütterlichen Brieffreundin knapp zwei Jahre später (an Tyrka-Gebell, 22. März 1905). Einen im Nachlass erhaltenen, mit dem Brief fast aufs Wort übereinstimmenden Selbstkommentar wollte er vielleicht der Versendung des Manuskripts an Verlage beilegen. Der selbstkritische Ton des Entwurfs scheint freilich wenig geeignet, Werbewirksamkeit für den Roman zu entfalten: »Er behandelt ein psychologisches Sujet und genügt nicht einmal der einfachsten Psychologie. Sechzehnjährige Knaben reden darinnen wie Bücher. Und da mir doch davor bange würde, wie schlecht geschriebene Bücher. […] Überdies wird man Dinge finden, ›die doch gar nicht in einen Roman gehören.‹ Einen Diskurs über irrationale Zahlen und dergleichen. Mit einem Wort: dieser Roman, der sich nur an ein geistreiches Publikum wenden kann, wird gerade in den Augen dieses geistreichen Publikums verfehlt erscheinen« (Mappe IV/3, S. 116f.).

{3} Das Manuskript wurde von allen drei Verlagen, an die Musil es sandte – J. C. C. Bruns, Schuster & Löffler, Eugen Diederichs –, abgelehnt. Er wandte sich daraufhin an den berühmten Berliner Kritiker Alfred Kerr. Dieser erkannte nicht nur das Potential des Textes, er behauptete 1942 in seinem Nachruf, er hätte sich bereitgefunden, »jede Zeile dieses Buchs« mit dem Autor durchzuarbeiten. Musil selbst erwähnt dagegen nur »einige kleine Änderungen, auf die mich Herr Dr. Kerr aufmerksam machte« (an den Wiener Verlag, 24. Oktober 1905). Jedenfalls stellte Kerr den Kontakt zum skandalumwitterten Wiener Verlag her, der auch Werke anderer Autoren der ›Moderne‹ verlegte, darunter auch solche mit erotischem, anstößigem Inhalt, wie Schnitzlers Reigen (1903). Nach mehrmonatiger Prüfung lag Mitte Dezember 1905 der Vertrag vor, doch es verging fast noch ein weiteres banges Jahr des Wartens für den Debütanten, bis es zur Herstellung des Buches kam. Der zweifarbige Schutzumschlag mit Rankenwerk, Bordüren und Golddruck folgte dem Jugendstil, die Schriftgestaltung der Titelei und des Maeterlinck-Mottos auf der Impressumseite wich von anderen Titeln des Wiener Verlags ab; möglicherweise ging dies auf einen Wunsch Musils zurück, der so die Nähe zu Maeterlincks Schatz der Armen sichtbar gemacht haben wollte (Metz, S. 19).

{4} Am 6. Oktober 1906 schließlich wurde der Roman im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel mit folgenden Worten annonciert: »In diesem Buche des jungen Autors […] werden die geistigen und sittlichen Versuchungen eines Pensionatszöglings in außerordentlich feinen und eigenartigen Wandlungen dargestellt. Es ist ein durchaus künstlerisches Werk, ein in seiner Wahrheit und originellen Anschaulichkeit packendes Seelengemälde, dessen realer Hintergrund das Interesse an den geschichtlichen Hintergründen noch erhöht.« (Corino 2003, S. 262f.)

{5} Es war Alfred Kerr, der den Roman durch seine wohlwollende Rezension im Berliner Tageblatt als Erster in einer langen Reihe von Kritikern pries, als ein Buch, »das bleiben wird«. Zugleich versuchte er dem zu erwartenden »Hexenprozeßverfahren« wegen Verletzung öffentlicher Moralvorstellungen vorzubauen.

{6} Nicht zuletzt befeuert vom Zuspruch der Kritik sollte der Törleß das erfolgreichste, bestverkaufte und auflagenstärkste Buch Musils werden. Es wurde nach dem Konkurs des Wiener Verlags 1907 von Georg Müller in München, ab 1914 von S. Fischer in Berlin und ab 1925 von Rowohlt in Berlin übernommen; dieser veranstaltete 1930/31 einen vom Autor durchgesehenen Neudruck. Zu Musils Lebzeiten erreichte die Auflage eine Höhe von 13.000 Exemplaren, der Gesamtverkauf belief sich auf nicht mehr als 10.500 Exemplare.