Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs

Nachwort Artur R. Boelderl

{1} »Aller seelische Wagemut«, so schreibt Musil im ersten Anlauf zum Profil eines Programms vom Dezember 1911, »liegt heute in den exakten Wissenschaften. Nicht von Goethe, Hebbel, Hölderlin werden wir lernen, sondern von Mach, Lorentz, Einstein, Minkowski, von Couturat, Russel [sic], Peano …« (Heft 15, S. 37) Die mit dieser Maxime umrissene (natur-)wissenschaftliche Grundlage seines literarischen Programms verdankt sich maßgeblich Musils zeitgleich mit der Arbeit an seinem Debüt als Romanautor betriebenen Studien. Diese waren in den Jahren nach Erlangung des Ingenieurstitels im Fach Maschinenbau an der Technischen Hochschule Brünn und dem anschließenden einjährigen Militärdienst zunächst vorwiegend praktisch-technischer Art: Musil war zu der Zeit wissenschaftlicher Assistent an der Technischen Hochschule Stuttgart. Erst ab November 1903, als er sich als Doktorand an der Universität Berlin einschrieb, wurden sie zunehmend theoretisch: Das Studium der Philosophie und Psychologie schloss Musil mit der im Januar 1908 vorgelegten, gegenüber der ursprünglichen Version vom Juni 1907 auf Veranlassung des Referenten Carl Stumpf umgearbeiteten zweiten Fassung der Dissertation (die Stumpf mit Zustimmung des Koreferenten Alois Riehl als laudabile bewertete) sowie der mit dem erfolgreichen Rigorosum vom Februar verbundenen Promotion zum Dr. phil. im März 1908 und der Gesamtbeurteilung cum laude ab.

{2} Freilich erwächst das literarische Programm Musils nicht unmittelbar aus seiner Dissertation; auch kann jenes nicht als die literarische Umsetzung oder gar Anwendung der darin formulierten Kritik an der erkenntnistheoretischen Position Ernst Machs gesehen werden. Dennoch ist die Nähe zwischen der literarischen Erstveröffentlichung des Autors Musil und dessen (in Buchlänge einziger) wissenschaftlicher Publikation nicht nur zeitlich und zufällig: Acht Monate nach der Veröffentlichung des Törleß im Oktober 1906 reicht Musil die erste Fassung der Dissertation ein, die als verloren gilt, die approbierte zweite Fassung erscheint noch im Promotionsjahr 1908 beim Berliner Dissertationenverlag Carl Arnold. Die Forschung hat die vielfältigen direkten wie indirekten Verbindungslinien zwischen diesen beiden Debüts aufgezeigt, die einen doppelten Anfang der publizistischen Laufbahn dieses Autors markieren, insofern sie auch nach der mit seiner Ablehnung einer Assistenz- bzw. Habilitationsstelle bei Alexius Meinong in Graz um die Jahreswende 1908/09 und der damit getroffenen Entscheidung für eine Existenz als Schriftsteller fortwirken. Die philosophische Problematik, mit der sich Musil in seiner Dissertation beschäftigt, und das literarische Programm, das er gleichzeitig konzipiert, sind im selben interdiskursiven Umfeld angesiedelt. In Ansätzen zeichnen sich die Konturen dieses Programms schon im Erstlingsroman ab, hatte Musil sich doch seit 1902 mit dem ab 1895 in Wien lehrenden, weit über akademische Kreise hinaus wirkenden Physiker und zu seiner Zeit prominentesten Vertreter des Empiriokritizismus Mach befasst, zunächst mit dessen Populär-wissenschaftlichen Vorlesungen. Am dort wie auch in Machs Hauptwerk Analyse der Empfindungen behaupteten psychophysischen Parallelismus – der Annahme, dass jedem physischen Element ein psychisches entspreche bzw. dass Eigenschaften für sich genommen weder physisch noch psychisch, weder objektiv noch subjektiv seien – arbeitet sich bereits der Törleß ab, was sich auch jenseits deutlicher inhaltlicher Bezüge in teils wortwörtlichen Aufnahmen von Formulierungen Machs niederschlägt, etwa in der Eingangsszene, wo von den „parallele[n] Eisensträngen“ und „zwei Reihen Akazienbäumen“ (S. 11) die Rede ist.

{3} Über Art und Ausmaß der auf Verlangen von Stumpf vorgenommenen Änderungen an der Dissertation zu spekulieren (aus den zunächst vorgelegten Studien zur erkenntnistheoretischen Grundlage der Physik mit Bezug auf die Anschauungen E. Machs wird, vergleichsweise bescheidener, ein Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs), erscheint angesichts des Umstands, dass sich der Text der ersten Fassung nicht erhalten hat, sowie der Spärlichkeit anderer Zeugnisse zu deren Inhalt so verlockend wie müßig – Letzteres umso mehr, als der Text in seiner auf uns gekommenen Form hinreichend Stoff für Kommentar und Interpretation bietet. Davon zeugt eine angesichts der sperrigen Thematik doch beträchtliche Anzahl einschlägiger inter- bzw. transdisziplinärer Studien, die sich nicht von ungefähr an der Frage nach den fachlich-diskursiven Grenzen zwischen Philosophie und Literatur bzw. Geistes- und Naturwissenschaften abarbeiten und damit dem Umstand Rechnung tragen, dass dieser Frage im und für das Werk Musils eine zentrale Rolle zukommt, inhaltlich wie methodologisch.

{4} Die Einleitung leistet die Stellung der Aufgabe, indem sie »in freier Wiedergabe die bezeichnendsten Leitsätze aus den Schriften des Physikers Ernst Mach« (S. 229) zusammenfasst, um daraufhin als Erkenntnisinteresse der Arbeit die Überprüfung von Machs Behauptung zu bestimmen, er sei zu seiner radikalpositivistischen Position »tatsächlich in logischer Folge von einer richtigen oder wenigstens widerspruchsfreien Auffassung der Naturwissenschaft aus gelangt« (S. 231). Auf dem Prüfstand stehen also weniger epistemologische Annahmen als vielmehr der Weg, auf dem Mach zu ihnen gekommen zu sein angibt, das heißt die Möglichkeit der »Übertragung« (S. 231) vom Diskurs der Naturwissenschaft auf den Diskurs der Erkenntnistheorie, welcher nicht allein Erkenntnisbestände der exakten Wissenschaften, sondern Erkenntnis überhaupt zum Gegenstand hat. Einen Hinweis auf den bei allem Ernst dennoch merklich ironischen Ton, der ja auch die literarischen Werke des Autors charakterisiert, liefert die Beobachtung, dass Musil Mach an diesem markanten Punkt in der Einleitung als denjenigen »Vertreter des Positivismus« vorstellt, der »als der erste mit der Behauptung Ernst machte [!], daß seine (positivistischen) Überzeugungen […] nichts als ein Ergebnis der Entwicklung der exakten Forschung seien« (S. 231); er unterstreicht dieses Spiel mit dem Eigennamen noch durch die Bemerkung, Mach löse »in seiner Person das ein, was vor ihm […] nur behauptet wurde« (ebd., kursiv ARB).

{5} Auf diese Weise verknüpft Musil mit dem Namen Machs und seiner Person die Frage nach der Rolle, die dem Forscher als Subjekt in der Realität zukommt – und welchen Beitrag es zum Zustandekommen wissenschaftlicher Erkenntnis leistet. Beides wird von Mach auf erkenntnistheoretischer wie metaphysischer Ebene geleugnet, was Musil motiviert, Mach gegenüber den Vorwurf des performativen Selbstwiderspruchs zu erheben. Dieser Vorwurf steht im Zentrum der kritischen Befragung, der Musil Machs Texte in Form einer minutiösen Lektüre aussetzt. Die Texte Machs nämlich und nicht dessen Anschauungen bilden den hauptsächlichen Gegenstand der Dissertation. Nicht dass Musil sich nicht für diese inhaltliche Seite der philosophischen Position Machs interessiert oder in der Abfassung der Dissertation nur eine akademische Pflichtübung gesehen hätte; zweifellos trieb ihn die Frage der Naturnotwendigkeit ebenso um wie die der Kausalität, um zwei Themen zu nennen, mit denen er sich vorrangig beschäftigt. Interessanter aber als eine gleichsam frontale Auseinandersetzung mit diesen Themen scheint Musil der diskursive Umgang mit ihnen, ihre ausdrückliche, sprachliche Form in der Wissenschaft. So nehmen selbst die im engeren Sinn philosophischen Argumente, die Musil gegen Mach vorbringt, häufig die Gestalt eines Hinweises auf diskursive Inkonsistenzen an, die weniger logischer als vielmehr rhetorischer Art sind: Wenn Mach hier so und so redet, dann kann er doch dort nicht so und so reden.

{6} Zur Diskussion steht dabei stets die erwähnte Frage nach dem Subjekt der Erkenntnis: Wer spricht? Genauer: Wer ist es, der behauptet, dass vom einen (dem naturwissenschaftlichen) Diskurs zum anderen (dem erkenntnistheoretischen) ein zwangsläufiger Weg führe, und der doch gleichzeitig seinen eigenen Anteil am Zustandekommen dieses Wegs negiert? Was Musil gewissenhaft durch alle Instanzen des Mach’schen Werks hindurch problematisiert, ist die schiere Möglichkeit eines Vorgehens, das Mach selbst in Erkenntnis und Irrtum (1905) ganz selbstverständlich und wie beiläufig so darstellt (Musil zitiert die Stelle in einer Fußnote auf S. 230): »Meine Darlegungen gehen stets von physikalischen Einzelheiten aus und erheben sich von da zu allgemeineren Erwägungen.« Musils Interesse an Mach erweist sich somit als ein am genealogischen Perspektivismus Nietzsches (den Musil in etwa zeitgleich mit seiner frühesten Mach-Lektüre zur Kenntnis genommen hat) modelliertes; die Reichweite eines solcherart genealogischen Zugangs wird hier an Mach erprobt, um nicht zu sagen exekutiert.

{6} Die zitierte Selbstauskunft Machs über sein Vorgehen weist dessen Positivismus als nicht nur (metaphysisch) indifferente, sondern (erkenntnistheoretisch) skeptische und damit antimetaphysische Haltung aus. Deren Hinterfragung durch Musil erfolgt in vier Schritten bzw. Kapiteln, von denen das umständlich betitelte letzte und umfangreichste zugleich die abschließende Stellungnahme Musils enthält, das Fazit seiner Beurteilung der Lehren Machs. Ohne diese Schritte hier im philosophischen Detail erörtern zu können, lassen sie sich im Blick auf den literarischen Autor Musil mit Paul-Laurent Assoun als Akte einer Dekonstruktionsarbeit begreifen, die Musil am Mach’schen Text vollzieht, und zwar auf drei in vielfältiger Weise zusammenhängenden Ebenen: (1) Auf der epistemologischen Ebene geht es um Fragen der Denk-Ökonomie als Grundlage nicht nur wissenschaftlicher, sondern jeglicher Rationalität; erkenntnismäßiger Fortschritt, so Mach, verdankt sich derselben Anpassungsleistung, wie sie die evolutionäre Biologie für die Entwicklung der Arten annimmt. (2) Auf der physikalischen Ebene ersetzt Mach den seiner Ansicht nach spekulativen Begriff der Ursache durch den mathematischen Begriff der Funktion. (3) Auf der metaphysischen Ebene führt ihn die Reduktion aller Erkenntnis auf Empfindungen (das heißt für Mach: auf in der sinnlichen Wahrnehmung vorsubjektiv gegebene Elemente) zur Leugnung der Naturnotwendigkeit, also zu der Auffassung, dass eine auf funktionalen Zusammenhängen beruhende Erkenntnis auch nur eine logische, nicht aber reale Notwendigkeit dieser Zusammenhänge voraussetzt bzw. impliziert. In allen drei Punkten erteilt Musil Mach eine Abfuhr: Er bestreitet die Haltbarkeit von dessen jeweiliger Argumentation, indem er die vorgeblich aus der exakten naturwissenschaftlichen Forschung hervorgegangenen radikalpositivistisch-sensualistischen Positionen Machs und deren Absolutheitsanspruch auf erkenntnistheoretischem Gebiet relativiert. Dies mündet in einer finalen Geste, die Bescheidenheit mehr als Mittel der ironischen Brechung denn als eine der wissenschaftlichen Geltung Machs gegenüber angemessene Haltung einsetzt: »Im Einzelnen sind die Schriften Machs […] voll der glänzendsten Ausführungen und fruchtbarsten Anregungen« (S. 360) – womit Musil ex negativo unmissverständlich zum Ausdruck bringt, dass sie ›im Allgemeinen‹ (auf das sie aber abzielen) eben nicht bestehen können: Einzelwissenschaftlich, sprich: physikalisch mögen sie brillieren, philosophisch sind sie in Musils Augen unhaltbar.

{7} Dieser destruktiven Seite der Dissertation stehen jene konstruktiven Ansätze gegenüber, die im Verbund mit anderen Impulsen wenig später im eingangs zitierten Profil eines Programms ihren Niederschlag finden. Unter dem Einfluss Stumpfs einerseits und seiner Beschäftigung mit Edmund Husserls Logischen Untersuchungen andererseits destilliert Musil zielsicher aus Machs Texten jene Momente heraus, die dessen Phänomenalismus unterlaufen: »[…] auch in den Erfahrungen, auf die sich Mach beruft, [liegt] zumindest schon der Anstoß zur Bildung eines Eigenschaftsbegriffes« (S. 281), sie sind auf etwas angelegt, das über sie hinaus Bestand hat. Dass an dieser Stelle der Eigenschaftsbegriff auftaucht, lässt auf die über den philosophischen Kontext hinausreichende Tragweite von Musils Argumentationslinie schließen. Sie wird ersichtlich, wenn Musil auf die Rolle der idealisierenden Fiktion bei der Natur-Erkenntnis zu sprechen kommt: »[…] wird das [Natur-]Gesetz nur durch idealisierende Fiktion gefunden, so hat es […] zwar die Wiederholung gleicher Ereignisse unter gleichen Umständen zur Voraussetzung, weil es aber ein bloßes Abstraktum ist, existiert auch diese vorausgesetzte Regelmäßigkeit nicht in der Natur, sondern nur in der Abstraktion, im idealisierten Schema.« (S. 334) Diesem Mach-Referat lässt Musil seine Erörterung dessen folgen, was er als das »Mißverständnis« bezeichnet, »auf das sich die ganze Leugnung der Naturnotwendigkeit gründet; Notwendigkeit, schließt Mach, findet sich nur in der Abhängigkeit unserer Begriffe von einander, in unseren Vorstellungen von Gesetz u. dgl., diese sind aber durch Idealisierung gewonnen, also wird in die Natur die Notwendigkeit auch nur fiktiv hineingetragen.« (S. 334f.)

{8} Was für Mach die Zurückweisung einer solcherart zustandegekommenen Notwendigkeit erfordert, deutet Musil im Rekurs auf Stumpf und Husserl nun affirmativ und postuliert umgekehrt gerade die Notwendigkeit von Fiktion, Abstraktion und Idealisierung. Diese sei ihrerseits eine in der Erfahrung gründende Tatsache: »Die Erfahrung […] lehrt das Bestehen ungeheurer Regelmäßigkeit mit Deutlichkeit erkennen. Diese Regelmäßigkeit, die uns zu allererst auf eine Notwendigkeit schließen läßt, liegt also in den Tatsachen. […] die Idealisierung ist in den Tatsachen motiviert.« (S. 359) Auf die »wahre Struktur« (ebd.) jener Notwendigkeit richtet sich das Erkenntnisinteresse Musils, das er auch nach Abbruch seiner akademisch-philosophischen Laufbahn als Schriftsteller weiterverfolgen wird. Der Wechsel vom wissenschaftlich-philosophischen zum literarischen Feld lässt sich als zumindest mittelbare Folge jener Einsicht begreifen, die Musil gegen Ende seiner Dissertation formuliert: dass »wir mit unseren Mitteln« – und das heißt hier zweifellos: wir Philosophen mit den Mitteln der Erkenntnistheorie – an diese wahre Struktur »nie ganz herankommen« (ebd.). Es galt also, andere als philosophische, andere auch als wissenschaftliche, dabei aber keine naiv wissenschaftsfeindlichen, sondern durchaus am methodologischen Ideal naturwissenschaftlicher Exaktheit und Präzision orientierte Mittel zu suchen, mit denen sich dieses Ziel vielleicht besser oder vollständig erreichen ließ. Welche das sein würden, darüber gibt ebenfalls das Profil eines Programms Auskunft: der Essay(-ismus), die Novelle und der Roman.