Entstehung: Vorwort

„Nur sagte er öfters, daß er nichts Unfertiges herausgeben möchte; aber manchmal sagte er auch: später einmal werden sich Literaturhistoriker an meinen Notizen den Kopf zerbrechen.“

Martha Musil an Carlo Pietzner, 5. Juli 1942

{1} „Jetzt schreibe ich einen Roman, der im Frühjahr erscheinen soll“ [Korr-1924-11-16], kündigt Robert Musil im November 1924 dem von ihm hoch verehrten Lyriker Rainer Maria Rilke brieflich an. Die Terminsetzung mit Frühjahr 1925 erweist sich als verfrüht. In einem Brief an Klaus Pinkus muss der Autor am 10. Januar 1942 – also siebzehn Jahre und drei Monate später – eingestehen, dass er „mit dem Mann ohne Eigenschaften noch lange nicht fertig“ sei und „doch vorher etwas anderes schreiben möchte, das schneller geht“ [Korr-1942-01-10]. Die Arbeit an ein und demselben Romanprojekt füllt den Tagesablauf eines Schriftstellers während beinahe zweier Dekaden aus. Musil gibt in diesem Zeitraum so gut wie alle anderen Tätigkeiten und Vorhaben auf oder stellt sie zurück. Ein Phänomen wie dieses ist in der Geschichte der Literatur zumindest sehr selten. Im Entwurf zu einem Brief, der noch unmittelbarer vor Musils Tod entstanden ist, stehen folgende Passagen: „Ich hoffe in wenigen Wochen daran gehen zu können, die erste Hälfte des Schlußbands ins Reine zu schreiben; sie wird dann druckfertig sein, aber seine zweite Hälfte ist leider noch im Rückstand. […] Ursprünglich habe ich Ihnen erzählen wollen, wie dieser Schlußband aussieht; was ich schon längst habe tun wollen. […] Es wiederzugeben, wäre aber ebenso umständlich, wie es niederzuschreiben […].“ Die Situationsschilderung für den Förderer enthält wesentliche Aussagen: Die zweite Hälfte des Schlussbandes ist noch nicht fertig; eine ursprünglich beabsichtigte Wiedergabe des Romanschlusses unterbleibt; doch gibt sich Musil den endlichen Abschluss des Werkes betreffend optimistisch. Darin sind Evidenzen in Kurzform ausgedrückt, die von weiteren Untersuchungen bestätigt werden: Erstens: Fertige Manuskripte, aus denen man den Roman zuende lesen könnte, existieren nicht; „die erste Hälfte des Schlußbands“ will Musil ja noch „ins Reine […] schreiben“, mit der zweiten ist er „im Rückstand“. Zweitens: Es lässt sich keine Einsicht des Autors darüber erkennen, dass der Roman unabschließbar sei oder dass er etwa dort zu enden habe, wo die Arbeit an ihm seit einigen Monaten steckengeblieben ist, am Kapitel Atemzüge eines Sommertags. Das trifft inzwischen eingebürgerte und beliebte Rezeptionsweisen, nach denen dieser Roman entweder aus Prinzip unabschließbar wäre oder gerade an der Stelle enden müsse, wo der Tod dem Dichter die Feder aus der Hand genommen habe, weil dies mit einem Höhepunkt des Ganzen zusammentreffe und ein würdiges Ende sei. Keine der beiden Auflösungen ist mit den Intentionen des Autors zur Deckung zu bringen – obwohl beide aus der Sicht der Leser etwas für sich haben mögen. Sich auf die Intentionen des Autors einzulassen, war bei der Ausbildung der Prämissen für die Abfassung der vorliegenden Darstellung aber ein entscheidender Impuls.

{2} Das Interesse am Thema – dem unvollendeten Schluss des Mann ohne Eigenschaften – ist nicht schwer zu erklären. Die Lektüre dieses faszinierenden Romanwerks, die durch seinen Umfang und seine Tiefe vieles abverlangt, führt zwangsläufig in Irritation. Sobald die Leser den gesicherten Pfad der zu Lebzeiten des Autors publizierten Kapitelfolge verlassen, geraten sie auf unsicheres Terrain. Sie schlagen sich mit vom Autor offenbar wieder zurückgezogenen Druckfassungen, Alternativ- und Fortsetzungsvarianten herum und fragen sich angesichts der retardierenden Handlung, ob sie denn wieder zur Geschichte, die dieser Roman mit all seinen Figuren und Nebenfiguren trotz seiner essayistischen Struktur auch erzählt, zurück und zu ihrem Ende finden werden. Und unversehens befinden sich Leser der Buchausgabe wieder in einer Geschichte: doch ist es dieselbe? Sie bewegt sich in den posthumen Buchausgaben nicht ihrem Ende zu, nein, sondern in einem Bogen auf ihren Anfang zurück, nämlich dem Anfang nach der Chronologie der Entstehung. Aus dem vorwissenschaftlichen Lektüre-Interesse rührt also die Frage: Warum konnte Musil den Mann ohne Eigenschaften nicht fertigstellen, nachdem er doch beinahe zwanzig Jahre an diesem Werk gearbeitet hat? Was hat es mit all den Entwürfen, Skizzen, Konzepten und Notizen auf sich? Fügen sie sich zu einem Bild, auf Grund dessen man sich einen möglichen Schluss des Romans immerhin zu denken vermag? Lassen sich konkrete Realisierungsansätze für das Finale herausschälen oder bleibt alles im Imaginären? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt meiner Erschließungstätigkeit am Nachlass..

{3} Das Studium des Nachlasses macht rasch offenbar, dass man es bei der synchronen Betrachtungsweise nicht bewenden lassen kann. Es hat sich als unmöglich herausgestellt, Nachlassmanuskripte aneinander zu fügen und daraus die Fortsetzung des Romans zu rekonstruieren, weil sich quer gegen diese horizontale Linie des Romanfortgangs automatisch immer wieder eine vertikale, diachrone Linie stellt: das Vorher und das Nachher in der Erzählsukzession überlappt sich mit dem Früher und dem Später in der Entstehungssukzession. Der imaginäre Schluss des Romans liegt am Kreuzungspunkt zweier durch den Tod des Autors zum Stillstand gekommener Wachstumsbewegungen, der Bewegung in der Erzählrichtung und der Bewegung in der Entstehungsrichtung. Der genetische Beziehungsmodus zwischen den Texten zwingt zur Anerkennung eines Historizitäts-Prinzips (einer Mikro-Historizität). Das Nicht-Zustandekommen des Abschlusses ist eine Resultante der Produktionsgeschichte des Romans; diese ist auf der Basis des vollständig publizierten Materials in systematischer Weise neu zu schreiben. Die Entstehungschronologie des Romans lasse sich „nicht einfach aus irgendwelchen biographischen bzw. zeithistorischen Gegebenheiten ableiten“ [Aspetsberger/Rußegger 1997, 56], schreiben schon Mitherausgeber der allerersten digitalen Edition. Wenn auch nicht „einfach“ und „irgendwie“, so steuert aber dennoch ein anderes Historizitäts-Prinzip (das einer Makro-Historizität) die Produktion und ist an der Formung des Texts mitbeteiligt. Die semio-historische bzw. sozio-semantische Außenwelt strukturiert die Innenwelt und imprägniert die Periodisierungen des Schreibens. Die konkrete Lebenssituation des Autors, eingebettet in sozialökonomische, historisch bedingte Sachzwänge, beeinflusst die Verzögerung des Schreibprozesses und das Nichtzustandekommen des Abschlusses. Aus Tagebuchaufzeichnungen und weiteren biographischen und autobiographischen Dokumenten, die der Nachlass enthält, außerdem aus der publizierten Korrespondenz des Autors, lässt sich die Selbstreflexion Musils über seine Existenz als Autor und über sein Schreiben einbeziehen und berücksichtigen, welche Erklärungen er selbst für sein Nichtvorankommen mit dem Roman heranzieht. Es liegt nahe, von der kommentierten Selbsterklärung den Schritt zur psychologischen Fremderklärung und nicht zuletzt zu psychoanalytischen Modellen zu wagen, um das Phänomen, dass Musil seinen Roman nicht abzuschließen vermag, aus verdeckten Intentionen und in ihnen verborgen liegenden psychischen Komplikationen zu erfassen. Die Grundhypothese lautet, dass Romansubstanz als im psychoanalytischen Sinn Bedeutendes von der planend rationalisierenden Instanz des Autorbewusstseins in einer jahrzehntelangen Abwehrbewegung in den Schlussteil des Romans verschoben wird. Zu dieser Substanz gehört das Inzestmotiv, das aber nicht eingegrenzt auf den Geschwisterinzest zu sehen ist, sondern die Darstellung der Sexualität im Mann ohne Eigenschaften generell überlagert, indem Sexualität schlechthin inzestiös aufgefasst ist, was auf Traumata bei der Ausbildung der Geschlechtsidentität in der Kindheit des Autors zurückbezogen wird.

{4} Die vollständige Online-Publikation des Nachlasses erleichtert gewiss die Diskussion dieser Hypothese. Indem schriftstellerische Produktion als Abarbeiten von Bedrängendem und zu Verdrängendem durch ästhetische Gestaltung gesehen wird, bedeutet das Erzählen der Geschichte immer auch ihr Verdecken, ihr Nicht-Erzählen; in der Einsicht in dieses Prinzip besteht der Hauptgewinn der psychoanalytischen Betrachtungsweise. Im Umschreiben der Geschichte, im Prozess der Fiktionalisierung beim Romanschreiben läuft ein Prozess der Maskierung ab, es geht um ein Ansprechen der Wahrheit, aber zugleich auch darum, sie unkenntlich zu machen durch imaginierende Ausgestaltung. Der publizierte Nachlass Musils beherbergt noch nicht für die Auslieferung an ein Publikum (fertig) zurechtgerichtete Schrift, er ist eine nach außen gestülpte innere Produktionsstätte, in der Gedanken und Ideen unbehauen und halbbehauen liegen; man wird auch sagen können: er erlaubt eine Art Eingeweideschau. Bei einer Schritt um Schritt die Genese freilegenden Lektüre der Manuskripte mag sich psychoanalytisch Bedeutendes enthüllen und es ließe sich eine Art Textarchäologie betreiben, bei der immer ältere Schichten freigelegt werden, bis die Verankerung des betreffenden Motivs in der intimen Geschichte des Autors ganz sichtbar gemacht worden ist. Doch kann es kein Ziel einer Untersuchung sein, einen psychoanalytischen Befund zu einem verstorbenen Autor zu gewinnen. Mein Ansatz zur Textgeschichtsforschung bedeutet „nicht die Anwendung irgendeiner Theorie, sondern das subjektive Sich-Einlassen auf den Text und die nachträgliche Reflexion darüber“, die gezielte Relativierung der vielen „abstrakten Konzeptualisierungen“ [Schönau 1991, 4, 11-12]  innerhalb der psychoanalytischen Literaturwissenschaft. Zu ergänzen wäre, dass die Freudsche Psychoanalyse, erweitert um die Lacan-Schule, in der Philologie vermittels des von ihr ausgebildeten Jargons wirkt und eine Methodik provoziert, die zu Benennungs- und Umbenennungssucht ausufert. Wenn die Absicht besteht, nicht Psychographie, sondern Texthistoriographie zu betreiben, so empfiehlt sich, wie für makro-historische Darstellung, eine offene Nomenklatur, die der Vielfalt der Phänomene Rechnung trägt. Der literarische Produktionsprozess, in dem sich die Verwandlung von geistigen Substanzen abspielt, speist sich aus vielen Quellen, nicht nur aus der Psyche des Autors.

{5} Eine Antwort auf die Ausgangsfrage, was den Mann ohne Eigenschaften habe Fragment bleiben lassen, wird sich also innerhalb der Generalaussage – seine Geschichte, seine Genesis – differenzieren. Dass die Textgeschichte in der vorliegenden zweigliedrigen Darstellung doppelt, gleichsam in Grundriss und Aufriss, erfasst wird, nämlich als Deskription und Rekonstruktion einerseits, als Analyse und Dekonstruktion andererseits, soll sicherstellen, dass Offenheit des Erklärens gewahrt bleibt. Die 1988 begonnene, im Jahr 2000 als Zwischenergebnis in Buchform veröffentlichte und selbst heute noch nicht abgeschlossene Studie verdankt ihr Zustandekommen in erster Linie der Tatsache, dass der Verfasser seit 1985 in unterschiedlichen Verantwortlichkeiten an der Transkription und Edition des Nachlasses von Robert Musil mitbeteiligt gewesen ist und sich auf diesem Weg detaillierte Kenntnisse der Manuskriptlage erworben und vertiefte Einsichten in die Zusammenhänge zwischen ihnen verschafft hat. Eine Reihe von Personen sind in den jahrzehntelangen Prozess des Zustandekommens verwickelt, die sich der tatsächlichen Bedeutung ihrer Rolle zum Teil wahrscheinlich kaum je bewusst geworden sind: als geistige Mentoren und Betreuer, aufmerksame Leser und Ratgeber, Projektleiter und Projektmitarbeiterinnen, Kolleginnen und heimliche Ko-Autoren. Meine Musil-Studien habe ich nach ihnen, unter ihnen, mit ihnen und vor ihnen betrieben, doch scheint mir das Ergebnis eine ungewollte Replik auf sie alle geworden zu sein. Als Zeichen meiner ungebrochenen Dankbarkeit nenne ich von den wichtigsten bloß die Namen ohne Eigenschaften: Klaus Amann, Friedbert Aspetsberger, Artur Boelderl, Karl Corino, Adolf Frisé, Arno Rußegger, Regina Schaunig, Norbert Christian Wolf.