Korrespondenz 1902 – Verzeichnis
Robert Musil an Die Oberen Zehntausend

Datum: 17. Mai 1902
Ort: Brünn / Leipzig
Typ: Briefentwurf
ÖNB – IV/2/112
–> Die Oberen Zehntausend
Mich Ihrer Announce – Zukunft vom 17. Mai – erinnernd, würde ich gerne in Verbindung mit Ihrem geschätzten Blatte treten und ersuche Sie daher um nähere Angaben, insbesondere den Inhalt der von Ihnen gewünschten Feuilletons betreffend, da ich in der Lage bin, über verschiedene Gebiete mit der erforderlichen Sachkenntnis zu schreiben.
Literarische Themen jeden Charakters – außerdem jedoch auch orientierende Aufsätze über ethische und ästhetische Gebiete – populäre Darstellung philosophischer Fragen, würde mir wohl in erster Linie zusagen, jedoch bin ich vermöge meiner Stellung als Ingenieur und glaube ich mich hiezu durch private Studien wie durch eigene Tätigkeit auch befähigt in ebensolcher Weise, technische Fragen mit dem nötigen Einblick zu behandeln. In dritter Linie Plaudereien über sportliche Gegenstände, wobei ich mir zu bemerken erlaube, daß ich selbst als Sportsmann bekannt bin und in diesen Kreisen Verbindungen habe. Als Probe meiner Art – solche Gebiete zu behandeln, lege ich ein Feuilleton bei.
Robert Musil an Stefanie Tyrka

Datum: Pfingsten 18./19. Mai 1902
Ort: Brünn / Graz
Typ: Briefentwurf
ÖNB – Heft 4 Einlage 32
Vermutete Adressatin vgl. Frisé 1981/2, 3 und Corino 2003, 855
–> Stefanie Tyrka
Verehrte gnädige Frau!
Eine Woche später.
Die beiden Bücher, welche Lájos mir zuschreibt, stammen nicht von mir; mit Ausnahme zweier Skizzen habe ich überhaupt noch nichts veröffentlicht. Doch – ein oder zwei Rezensionen über Bücher.
Seit einem Jahre habe ich gar nichts mehr ausgearbeitet. Darauf bin ich heute gekommen. Bedenklich! Und ich habe es so gar nicht empfunden! Das nennt man Dilettantismus! Oder wo sollte das sonst hinaus?! Was will der Organismus mit diesem sonderbaren Sparsystem? Andere – unsympathische Talente – arbeiten sich mittlerweile schrittweise vorwärts und blicken bereits auf „Leistungen“ zurück. Ich traue mich kaum mehr, sie zu mißachten.
Doch es ist mir eigentlich gar nicht so zu Mute, daß ich klagen möchte.
Ganz zuerst wollte ich einen Brief schreiben.
Robert Musil an Stefanie Tyrka



Datum: 31. Mai – 2. Juni 1902
Ort: Brünn / Graz
Typ: Briefentwurf
ÖNB – Heft 4, S. 55-58
–> Stefanie Tyrka
Aus einem Brief an Frau Tyrka:
In mir ist wieder der alte Streit zwischen Hirn und verlängertem Mark, zwischen der Freude an logischer Spekulation und jener mehr „lyrischen“ Art meiner letzten Zeit. In meinem letzten Briefe war ich ja noch sehr böse auf den Verstand – das geht bei mir so hin und her und wird wohl noch geraume Zeit so hin und hergehen. Ein volles Jahr ist es her, daß ich nichts von größerem Zusammenhange schrieb und wenn ich zurück denke erscheint es mir wie einer jener Sonntagnachmittage, wie ich sie so oft in meinem schattenreichen Zimmer verbrachte, – einen Satz lesend aus irgend einem Buch, dann zum Schreibtisch oder ans Fenster tretend, um ein Blatt Papier oder eine Schachtel Zündhölzer zu holen und wieder beim Schreibtisch oder Fenster stehen bleibend – zehn – zwanzig Minuten, den Gegenstand starr in der Hand und leer hinausstarrend – dann wieder ein Satz – und so bis zur Dämmerung und zur Stunde des Abendbrotes.
Sehen Sie gnädige Frau. Das ist etwas zur Beurteilung, und ich frage ganz ernsthaft – kann ein Organismus mit solcher Ökonomie noch einen Zweck verfolgen, ist das einfach Schwäche und eine Art männlicher Hysterie?
Andrerseits habe ich gerade in diesem Jahre viele, einander völlig entgegengesetzte Stimmungen durchlebt.
Stimmung ist wohl nicht das richtige Wort; – was ich meine ist etwas weit Einschneidenderes – ein Komplex von Ansichten, Hoffnungen, Strebungen – die Aussicht auf einen Weg, den man beschreiten will, weil man ahnt, daß er zu einem Ziele führt.
Ja – von dieser Sorte also vielerlei.
Das gibt auch gerade keine guten Erinnerungen. Vielleicht wäre auf jedem Wege etwas zu erreichen gewesen, wenn die Umstände ihn begünstigt hätten. Besser: wenn ich ihn überhaupt beschritten hätte, was ich ja nie tat.
Ich weiß nicht, ob Ihnen der gewählte Vergleich konkret genug ist – im Zimmer stinkt es nach Terpentin, weswegen ich mich nicht sorgfältig genug ausdrücke – unter Beschreiten eines Weges verstehe ich mit der ganzen Person, mit Fleisch und Blut, wirklich darauf sein, – nicht bloß mit dem Verstande flüchtig ihn entlang fliegen.
Sie wissen ja, welchen Wert ich darauf lege und wie sehr mir ,Kunst‘ nur als ein Mittel zur Erhöhung der ,Person‘ dient. Manchmal trieb ich dies ja ins Extrem, indem ich statt Person Sinnlichkeit im weitesten Begriffe setzte. Ich schrieb meine Gedanken gar nicht nieder, ich vergaß sie ruhig – Hauptsache war, daß mir von ihnen eine angenehme Stimmung verblieb. So lag ich oft auf meinem Divan und fröhnte dieser Art Selbstvernichtung. Das ist nun gewiß sehr erziehlich, artete bei mir jedoch aus, indem es quasi die moralische Stütze und Verteidigung vor mir selbst, der anfangs erwähnten schlaffen Tatlosigkeit bildete.
Arbeiten stellte ich mir so vor, daß die Person, das heißt ihr Wert sich nicht ändere, daß sie bloß – durch Selbstüberredung oder was immer für Einflüsse – in den Bann einer anhaltenden, penetranten Suggestion gerate, wirklich in ihr lebe, von ihr durchsetzt werde.
Daß man nachher aufwache und das Gefühl behalte, durch etwas Dunkles, nicht mehr Verständliches sein Leben bereichert zu haben.
Eine enorme Konzentration ist dazu nötig und da mir diese fehlte, arbeitete ich einfach gar nicht, was ich als keinen allzu großen Verlust betrachtete.