1942-2

Verzeichnis der Posthumen Korrespondenz von Martha Musil
Martha Musil an Robert Lejeune, 24. Mai 1942

Lieber, verehrter Herr Pfarrer!
Daß Ihr Fuß einigermaßen oder hoffentlich jetzt schon ganz geheilt ist, bereitet mir große Freude; der letzte Freundschaftsdienst an meinem Mann ist teuer erkauft gewesen! Ich bewundere Ihre unermüdliche Arbeitskraft, ebenso wie Robert sie immer bewundert hat und hoffe, den Aufsatz bald lesen zu können! Allerdings scheint das Schicksal Robert Musil auch nach seinem Tode noch zu verfolgen, und so ist es wohl nicht sicher, daß der Redakteur der Schweizer Rundschau, der sich nie um ihn gekümmert hat, ihm jetzt den ehrenden Nachruf widmen will.
Meine Einsamkeit ist nicht leicht zu ertragen; doch will ich, solange es irgend geht, in dem kleinen Haus wohnen bleiben, weil – wie Sie vermuten – alles so liegt und steht, wie es war, und mein Mann noch fast wirklich gegenwärtig ist. Die Totenmaske hilft mir es zu ertragen; ich werde mich bei dem Bildhauer nach dem Abguß erkundigen, doch, wenn er von der Maske selbst genommen werden müßte, was ich fast glaube, – dann seien Sie mir bitte nicht böse, wenn ich es vorläufig nicht über mich bringe, sie dazu herzugeben! – Baruschke hat viele Photo-Aufnahmen von ihr gemacht, doch ist bisher keine gute darunter gewesen. Sollte bei den letzten eine gute sein, schicke ich sie Ihnen.
Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, die Notizen über die Laientheologie abzuschreiben, und leider sind es eben nur Notizen und das Kapitel, zu dem sie gehören sollten, ist nicht geschrieben.
Ich bin beschäftigt, alles schon Gedruckte, auch die vielen Essays, für eine Gesamtausgabe, die ja – irgendwann – einmal erscheinen wird, chronologisch zusammenzustellen. Essays aus dem „Neuen Merkur“, der sich in privatem Besitz in Askona befindet, schreibt mir eine Bekannte ab. Einige Jahrbücher, wie zB. „Ganymed“ „Summa“ „Der lose Vogel“ habe ich zuhause, ebenso einige noch ältere Aufsätze. Es fehlen mir aber noch viele Essays aus der Fischer’schen Neuen Rundschau, die in der Genfer Bibliothek nicht vorhanden ist. Ich habe Frau Dr. Gäumann (Doris Wild) gebeten nachzusehen, ob alle Jahrgänge der Zeitschrift in Zürich sind, habe aber noch keine Auskunft bekommen. Wenn sie auch dort nicht sind, könnte Baruschke die Aufsätze aus Deutschland verschaffen; das wäre aber weit umständlicher.
In der Hauptsache bin ich jedoch in letzter Zeit damit beschäftigt gewesen, jene Kapitel, die mein Mann handschriftlich zur Reinschrift vorbereitet hatte, in die Maschine zu schreiben. Während des Schreibens fand ich sie so schön, daß ich trotz meines Widerstrebens gegen eine posthume Teilveröffentlichung dachte: das muß veröffentlicht werden. Es war wie eine Eingebung.
Ich glaube, ich hatte Ihnen erzählt, daß Robert letzthin viel in und über Dostojewski gelesen hatte; und öfters sagte er mir: Frau Dostojewski hat die Bücher ihres Mannes im Selbstverlag herausgegeben; das solltest Du auch tun! (Er dachte nicht daran, oder wollte nicht daran denken, daß die Schwierigkeiten jetzt in jeder Hinsicht größer wären als dazumal)
Diese Kapitel aber, – es wären wohl in nicht so engem Druck wie die Seiten des Mann o. E. 150–200 Seiten, denn dabei sind auch die ersten 6 Kapitel der schon ausgedruckten Fahnen, deren letztes „Mondstrahlen bei Tage“ ist – könnten vielleicht als Luxusdruck und ev. auf Subskription herauskommen, nur für die Freunde des Autors bestimmt, die den Mann ohne Eigenschaften lieben und wünschen, die Fortsetzung zu lesen, selbst wenn es nur wenige Kapitel sind. Ich möchte es nicht durch einen Verleger besorgen lassen, weil der dann das ganze Buch wieder verlegen wollte (falls er sich überhaupt dazu herbeiließe), und das muß im Interesse der – späteren – Gesamtausgabe vermieden werden. (Übrigens: es wird Sie interessieren, daß sich ein Kapitel: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ in vielem mit Ihrer Predigt „Wer ist mein Nächster?“ berührt)
Um die Auslagen dieser Broschüre oder Luxusausgabe hereinzubekommen, müßten aber doch wohl mindestens 200–300 Subskribenten zusammenkommen, und ob sich so viele Freunde in der Schweiz finden, erscheint mir fraglich.
Im Anschluß an die erste Eingebung ist mir dann aber auch die Überlegung gekommen, ob es wirklich richtig und in Roberts Sinn gehandelt wäre, diese „Reinschrif“ zu veröffentlichen, denn er hätte noch im Umbruch sicher manches geändert, – ebenso wie er auch die Absicht hatte, einige der ersten Kapitel der „Fahnen“ abzuändern und zu kürzen.
Und somit bin ich wieder etwas ratlos.
Mit herzlichen Grüßen für Sie und Ihre Frau Ihre
Martha Musil.
Wenn nichts dazwischen kommt, wird mich mein Sohn Mitte Juni für 14 Tage aus Rom besuchen.

Martha Musil an Carlo Pietzner, 5. Juli 1942

Lieber Herr Pietzner!
Mein Mann ist am 15. April gestorben, ganz plötzlich, er ist nicht krank gewesen, sondern so wie Sie ihn kannten, damals schon hatte er einen sehr hohen Blutdruck, aber keine Beschwerden davon, und nie dachte er an einen frühen Tod. Wir wohnten seit einem Jahr etwas außerhalb der Stadt in einem kleinen Haus in einem Garten, und er lebte dadurch gesünder als je, weil er die Arbeit öfters unterbrach, um in den Garten zu gehen. Auch seinen letzten Vormittag hat er wie gewöhnlich am Schreibtisch und zwischendurch im Garten verbracht, ganz ruhig und gut gelaunt, um 1/2 1 Uhr ging er hinauf indem er sagte: ich will noch vor Tisch ein Bad nehmen – und als ich nach kurzer Zeit die Tür des Badezimmers öffnete, um ihn zu rufen, fand ich ihn leblos am Boden. Mit einem so erstaunten und lächelnden Ausdruck, daß ich im ersten Moment dachte, er wolle mich erschrecken, im zweiten, daß er ohnmächtig sei – aber es war alles vorbei. Und der Arzt sagte dann, der Tod sei durch Gehirnschlag eingetreten, noch bevor er fiel, er hätte nichts gespürt. Vielleicht hatte er eine gymnastische Übung gemacht, vielleicht sich nur heftig gebückt – ich weiß es nicht.
In der letzten Zeit hat er oft gesagt, daß er hoffen kann, noch mindestens zwanzig Jahre arbeitsfähig zu sein, und diese Jahre hätte er auch gebraucht, um alle Pläne und Entwürfe auszuführen. Also konnte er keinerlei Bestimmungen hinterlassen. Nur sagte er öfters, daß er nichts Unfertiges herausgeben möchte; aber manchmal sagte er auch: später einmal werden sich Literarhistoriker an meinen Notizen den Kopf zerbrechen.
Es sind unendlich viele Manuskripte mit Entwürfen, Notizen, Einfällen, Aphorismen vorhanden. Alles sind erste Aufzeichnungen, die oft sehr schön sind, ihm aber nur als Notizen zur späteren Ausarbeitung dienten. – Ich bin sehr ratlos, was ich tun soll – ich habe niemand, mit dem ich darüber sprechen könnte.
Die Fahnen sind hier, aber er war dabei, sie ganz um und um zu arbeiten. Die ersten 7 Kapitel von ihnen sollten bleiben (sie schließen direkt an Band 11 an) und darauf folgen 6 neu geschriebene Kapitel, in Reinschrift geschrieben, nach unzähligen Überarbeitungen. Das letzte von diesen hat er zwanzigmal geschrieben, weil er immer noch nicht zufrieden war. Es heißt: Atemzüge eines Sommertags. Das Kapitel ist nicht beendet, er schrieb den letzten Satz um 1/2 12, und um 1/2 1 war alles aus. Also fehlt der Schluß dieses Kapitels und vielleicht noch ein Übergangskapitel zu drei oder vier folgenden, die er auch schon als fertig bezeichnet hatte.
Obwohl ich weiß, daß er noch manches, besonders an den Kapiteln der Fahnen, gekürzt und geändert hätte, will ich doch diese kurze Fortsetzung herausgeben. Aus Sicherheit, damit sie einmal gedruckt ist. Es werden etwa 250 Seiten sein, in kleinerm Format als der Roman, mit Vorbemerkungen, die ich aus unveröffentlichten Vor- und Nachworten Musil’s zusammenstellen kann. Ich möchte es ohne Verleger herausbringen, auf Subskription. Und habe ausgerechnet, daß sich mindestens 200 Subskribenten finden müssen, damit das Buch nicht mehr als 12 Frcs kostet. Es ist sehr zweifelhaft, daß sich in der Schweiz so viele finden, die den Autor und sein Werk schätzen. Er war hier ganz einsam. Im Leben und im Tod. Bei der Einäscherung waren 8 Personen anwesend. Ich muß zwei Freunde ausnehmen, eigentlich drei, aber der eine wohnt in Zürich, der andre in Zug, der dritte in der Nähe von Lausanne, darum sahen wir sie fast nie; und Robert hat die große Einsamkeit oft bitter empfunden.
Das zweite, was mir zu tun übrig bleibt, ist: alles schon Gedruckte, auch die Essays, Vorträge, verstreute kleine Erzählungen, chronologisch für eine Gesamtausgabe zu ordnen, die gewiß irgendwann einmal erscheinen wird, wenn auch nach vielen Jahren. Im Anschluß daran könnte vielleicht auch einiges Unvollendete erscheinen. Aber da weiß ich eben gar nicht, ob mein Mann dem zugestimmt hätte.
Einmal hatten Sie mich in Zürich gefragt, ob ich glaube, daß der Roman bis zum Schluß durchdacht sei. Es ist eine große Anzahl Kapitel niedergeschrieben, fast alle Personen des ersten Bandes, und auch neue, treten auf, aber die Folge und der Zusammenhang ist für einen andern nicht festzustellen. Auch gehören zu jeder Seite der Niederschrift viele Seiten mit Notizen, die teilweise unleserlich sind, und die zur Weiterarbeit dienen sollten.
Ich kann es schwer ertragen, alles das durchzusehen; zu wissen, was hätte werden können und nicht mehr werden kann. Ich möchte noch in unserem kleinen Haus wohnen bleiben, bis ich mit dieser Arbeit fertig bin. Alles liegt und steht noch so, als ob mein Mann gegenwärtig wäre. Ich lege zwei Aufnahmen von seiner Totenmaske ein.
Wir haben in der letzten Zeit viel von Ihnen gesprochen, und mein Mann war besorgt, weil Sie so lange nicht geschrieben hatten; er überlegte, ob er sich auf irgend einem Wege nach Ihrem Ergehen erkundigen könnte.
Ihr Telegramm und Ihr Brief haben mir wohlgetan, – wenn man so sagen kann, – und ich danke Ihnen herzlich für Ihre Teilnahme! Ich wünschte, daß Sie hier wären, aber leider ist ja dazu keine Aussicht vorhanden.
In der Hoffnung, daß es Ihnen gut geht und daß Sie arbeiten können, bleibe ich mit
vielen Grüßen Ihre
Martha Musil.
Meinen besten Dank auch Herrn Franz Krämer.